Glossar

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Die szenische Collage Der Elektriker. Die Geschichte des David Salz von Katharina Schlender (2006)

Ausgehend von Video-Interviews, die Lea Rosh, Sascha Jakob und Joachim Lühning mit David Salz, einem Überlebenden des KZ Buna/Monowitz, führten, schrieb Katharina Schlender den Theatertext Der Elektriker. Die Geschichte des David Salz (UA Hans Otto Theater Potsdam 2006, R: Uwe Eric Laufenberg). Das als „szenische Collage“ bezeichnete Stück baut sich aus zwei Materialarten auf, einmal ‚dokumentarische‘ Filmausschnitte, zum anderen von Katharina Schlender um diese herum entworfene Spielszenen. Die Charaktere der Spielszenen lehnen sich an Personen an, denen David Salz im Vorkriegsberlin, im KZ Buna/Monowitz und auf dem Todesmarsch begegnete, wie sich bei einem Vergleich mit von ihm gegebenen lebensgeschichtlichen Interviews feststellen lässt.[1] Doch setzt ihre Auswahl und Gestaltung ganz bestimmte Schwerpunkte – die zweite Hälfte des Stücks handelt von den letzten Kriegsmonaten – und damit auch Interpretationen, um aus der Geschichte des David Salz den Elektriker zu machen.

 

Einige der insgesamt 24 Videosequenzen, deren Positionen im Stück als Regieanweisungen im Text angegeben werden, binden David Salz‘ Geschichte in gegenwärtiges deutsches Gedenken ein. Am Anfang sieht man ihn durch das Stelenfeld des Denkmals für die ermordeten Juden Europas in Berlin gehen, am Ende legt er einen Stein auf den Gedenkstein an der Großen Hamburgerstraße, von wo David und seine Mutter Dora Salz wie tausende andere Berliner Jüdinnen und Juden nach Auschwitz deportiert wurden. Um kein Missverständnis über die Botschaft des Stückes aufkommen zu lassen, sagt er an diesem Ort nur „Nie wieder“ – dies sind zugleich die letzten Worte des Theatertextes.

 

In mehreren Sequenzen berichtet David Salz, immer an ‚Originalschauplätzen‘, wie er und seine Mutter im Treppenhaus ihres Berliner Mietshauses die Depesche erhielten, dass der Vater erschossen wurde, wie die Mutter nicht zurückkam, da sie verhaftet worden war, wie der 13-jährige David sie bei der Gestapo in der Prinz-Albrecht-Straße suchen ging, dort geschlagen und selbst deportiert wurde, wie er in Auschwitz ankam und sich als 17-jähriger Elektriker ausgab, um zur Zwangsarbeit selektiert zu werden, wie ein alter Häftling ihm sagte, er dürfe im Lager nicht weinen, wie er schließlich 1945 nach Berlin zurückkehrte und den Mann zusammenschlug, der seine Mutter verraten hatte, um an ihre Wohnung zu kommen. Dazu kommen einige Tonaufnahmen, in denen David Salz vor allem von seiner Flucht vom Todesmarsch im Frühjahr 1945 berichtet und davon, wie er sich zu den Alliierten durchschlug. Die hinzugefügten Filmsequenzen ohne David Salz erscheinen im stereotypen Auschwitz-Bilderschatz von Eisenbahngleisen und Stacheldraht im Sonnenlicht verfangen. Am stärksten ist Der Elektriker in den Videosequenzen, wo David Salz selbst von seiner Geschichte berichtet – gerade die Szene im Treppenhaus in Berlin, wo sie die Depesche von der Erschießung des Vaters erhielten – und im Bild zugleich das heutige Aussehen des damaligen Schauplatzes transportiert wird. Manche seiner Erzählungen sind immer wieder von Rückfragen der Interviewerin unterbrochen und zum Teil auf der Rampe und in Baracken von Birkenau angesiedelt, wo David Salz nicht inhaftiert war: Als er im März 1943 nach Auschwitz deportiert wurde, kamen die Transporte noch auf der sogenannten Alten Rampe am Güterbahnhof von Auschwitz an, und vom KZ Buna/Monowitz, wohin David Salz zur Zwangsarbeit für I.G. Farben gebracht wurde, sind heute keine Baracken mehr zu sehen. Die Herausforderung, mit dieser Abwesenheit der damaligen Orte bzw. ihrer Überbauung im heutigen Bahnhof Auschwitz und Dorf Monowice umzugehen, anstatt sich auf die bekannten Bilder aus Birkenau zu verlassen, haben Rosh, Jakob und Lühning nicht angenommen. Dennoch gelingt es mit diesen DV-Sequenzen, David Salz selbst als unmittelbaren Zeugen der Geschehnisse im Theaterraum erscheinen zu lassen.

 

Findet schon in den Videosequenzen das KZ Buna/Monowitz und die Zwangsarbeit für I.G. Farben keine Erwähnung, so verschieben die Szenen Katharina Schlenders das Stück erst recht von Auschwitz weg. Im Mittelpunkt der wenigen Szenen in Auschwitz steht die Vergewaltigung eines jungen Häftlings durch den Lagerältesten im Mondschein und die Erkundigung eines Mithäftlings, des Schneiders Kowalski, beim Lagerkommandanten nach dem Schicksal von Dora Salz, die gleich nach ihrer Ankunft vergast wurde. Die Darstellung des Lagers wirkt trivialisierend; dieser Eindruck wird verstärkt, wenn die Autorin auf David Salz‘ Bericht vom Todesmarsch eine Szene folgen lässt, in der zwei tschechische Jungen einen Schneemann bauen. Zwar mögen diese als Parallele zu den beiden Gestapo-Beamten gelten, die, nachdem David Salz von seiner Verhaftung berichtete, mit einem Stoffkrokodil spielen, das der eine seinem Kind schenken will; die hier wohl treibende Absicht, eine ‚Banalität des Bösen‘ zu behaupten, führt jedoch vor allem zur Banalisierung des vorliegenden Theatertextes. Ein Eindruck, den die um Alltäglichkeit bemühte Sprache des Textes noch verstärkt.

 

Ohnehin liegt das Augenmerk auf den Wirren der letzten Kriegsmonate, in denen es nicht nur David Salz gelingt, vor der SS zu fliehen, sondern ebenso deutschen Wehrmachtsdeserteuren; alle verstecken sich im Wald. Antisemitismus taucht als alltäglicher Bestandteil im Sprechen und Handeln bei manchen Deutschen im Stück immer wieder auf: so bei den Berliner Frauen, die zu Beginn und am Ende über David und Dora Salz reden, aber auch bei den Bauern, die David Salz auf seiner Flucht an die Gestapo auszuliefern versuchen. Ein schwarzer G.I., Joe, rettet David Salz und wird nach Japan versetzt, obwohl er doch wünscht, dass der Krieg endlich vorbei sei, während ein jüdischer Offizier der Roten Armee seine persönlichen Rachewünsche für seine ermordete Familie zu befriedigen versucht, indem er einen 18-jährigen Deutschen erschießt und dessen schwangere Schwester vergewaltigt. Der Zusammenhang dieser Szene mit der Geschichte des David Salz wird nicht klar, vielmehr scheint sie das Fortwirken antirussischer Nachkriegsressentiments in der deutschen ‚Erinnerungskultur‘ zu belegen. Entsprechend taucht der fleißige NS-Komponist Lenz, der zu Beginn Dora Salz an die Gestapo verriet, nun als Sowjet-Dichter auf, der in seinem Lied „Soldat“ durch „Genosse“ und „deutsch“ durch „rot“ ersetzt. Doch erreicht ihn in der letzten Szene des Stücks David Salz‘ Rache, als der ihn zusammenschlägt. In der Realität starb Lenz drei Monate später, wie David Salz in der folgenden Filmsequenz berichtet.

 

Gerade diese zweite Hälfte des Stücktextes, angesiedelt in den letzten Kriegsmonaten, lässt so den Eindruck zu, dass es darum ginge, zu zeigen, wie alle in dieser Zeit litten, ohne nach den gesellschaftspolitischen Ursachen von Krieg und Judenvernichtung und damit historischer Verantwortung zu fragen. Schaut man nur auf die Berichte des Zeitzeugen David Salz in den Videosequenzen, so scheint klar, was nie wieder geschehen soll; untrennbar erscheint sein „Nie wieder“ mit der von ihm nicht zu vergessenden und nicht zu verzeihenden Ermordung seiner Mutter in Auschwitz verbunden. Katharina Schlenders Theaterszenen hingegen lassen Zweifel aufkommen, was denn nie wieder geschehen solle – Auschwitz, Krieg im allgemeinen, oder, dass Menschen einander Schlimmes antun; die Szenen entpolitisieren die Stoßrichtung des „Nie wieder“, lösen es aus seinen gesellschaftspolitischen Zusammenhängen und relativieren so diese zentrale Botschaft der Überlebenden.

(MN)



Literatur

Schlender, Katharina: Der Elektriker – Die Geschichte des David Salz. Szenische Collage. Hamburg: Whale Songs Communications 2006, unveröffentlichtes Manuskript.

[1] Vgl. David Salz, Lebensgeschichtliches Interview [Dt.], 20./21.7.2007. Archiv des Fritz Bauer Instituts, Norbert Wollheim Memorial.