Glossar

Fahren Sie mit der Maus über ein rotes Wort im Haupttext, um den Glossareintrag für dieses Wort zu sehen.

1. Prozess gegen Bernhard Rakers

Mit Vorlage der Schwurgerichtsanklage vom 21. Juli 1952 beantragte die Staatsanwaltschaft beim Landgericht (LG) Osnabrück die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen Bernhard Rakers. Grundlage der Anklageschrift waren die Vernehmungsniederschriften von 31 Zeugen, die im Rahmen des Vorverfahrens vernommen worden waren. Mit Beschluss vom 20. August 1952 eröffnete das LG Osnabrück das Hauptverfahren. Am 11. Dezember 1952 begann sodann die Hauptverhandlung, die insgesamt 17 Verhandlungstage dauerte. Im Rahmen der Beweisaufnahme wurden 49 Zeugen eidlich vernommen und 23 Protokolle von Zeugenvernehmungen (darunter Wollheims drei Vernehmungen von 1950/1951)[1] sowie zahlreiche Urkunden verlesen.

 

Rakers wurde der schweren Körperverletzung mit bleibenden Gesundheitsschäden der Verletzten bzw. mit Todesfolge sowie des Mordes angeklagt. Neben der eigenmächtigen und willkürlichen Tötung von Häftlingen in den KZs Esterwegen und Sachsenhausen sowie auf dem Werksgelände der I.G., im KZ Buna/Monowitz und während des Bahntransports im Januar 1945 wurde Rakers insbesondere der Beteiligung an Selektionen in Buna/Monowitz beschuldigt. Gemeinschaftlich mit dem Schutzhaftlagerführer von Buna/Monowitz, SS-Obersturmführer Vinzenz Schöttl (1905–1946), sowie mit SS-Ärzten hatte Rakers nach Zeugenbekundungen bei Block- und Lagerselektionen sowie beim Aus- und Einmarsch der Häftlingskommandos geschwächte und entkräftete Häftlinge als „arbeitsunfähig“ ausgewählt. Die Selektierten wurden „listenmäßig“ verzeichnet („SB-Transportlisten“) und „karteimäßig“ mit der Bezeichnung „SB“ („Sonderbehandlung“), d.h. Tötung in den Gaskammern von Birkenau, erfasst.

 

Weder in den im Rahmen des Vorverfahrens gefertigten Vernehmungsprotokollen noch in der Anklageschrift finden sich Hinweise auf die Teilnahme von Vertretern der I.G. Farbenindustrie AG an Selektionen.[2] Von dem Chemieunternehmen, vom Nürnberger Prozess gegen I.G. Farben (1947/48) und der vom amerikanischen Militärgericht festgestellten „direkten strafrechtlichen Verantwortlichkeit“[3] der I.G. Farben-Angestellten Walther Dürrfeld, Heinrich Bütefisch und Otto Ambros, ist in der Schwurgerichtsanklage an keiner Stelle die Rede. Die in Nürnberg zu acht bzw. zu sechs Jahren Haft verurteilten I.G.-Mitarbeiter waren zur Zeit des Rakers-Prozesses bereits begnadigt und auf freiem Fuß.

 

Den Exzesstäter Rakers verurteilte das Osnabrücker Schwurgericht am 10. Februar 1953 wegen schwerer Körperverletzung im Amt, versuchten sowie vollendeten Mords und wegen Beihilfe zum Mord in fünf Fällen zu lebenslangem Zuchthaus und zu einer Gesamtstrafe von 15 Jahren.[4] Die bürgerlichen Ehrenrechte erkannte ihm das Gericht auf Lebenszeit ab. Das Urteil wurde im November 1953 rechtskräftig. Rakers Mitwirkung an Selektionen qualifizierte das erkennende Gericht nicht als Mittäterschaft zum Mord sondern als Mordbeihilfe. Aufklären konnten die Richter nicht, ob neben dem Schutzhaftlagerführer Schöttl und den beteiligten SS-Lagerärzten und SS-Sanitätsdienstgraden auch Rakers Entscheidungen über Leben und Tod der Häftlinge getroffen hatte.

(WR)



Quellen

Gustav Herzog, Eidesstattliche Erklärung, 21.10.1947, NI-12069. Archiv des Fritz Bauer Instituts, Nürnberger Nachfolgeprozess Fall VI, ADB 79 (d), Bl. 44–53.

Gustav Herzog, richterliche Vernehmung vom 31.1.1953 in Passau. StA b. LG Osnabrück, 4 Ks 2/52, Hauptakten, Bd. V, Bl. 262R (Staatsarchiv Osnabrück, Rep 945 Akz. 2001/054 Nr. 235).

Gustav Herzog, kommissarische Vernehmung vom 20.5.1963 in Wien, LG Frankfurt am Main, 4 Ks 2/63. Archiv des Fritz Bauer Instituts, FAP-1, HA-83, Bl. 15.891–15.897.

Schwurgerichtsklage. StA b. LG Osnabrück, 4 Ks 2/52, Hauptakten, Bd. V (Staatsarchiv Osnabrück, Rep 945 Akz. 2001/054 Nr. 235).

Urteil im 1. Rakers-Prozess. StA b. LG Osnabrück, 4 Ks 2/52, Hauptakten, Bd. VI, Bl. 1–105 (Staatsarchiv Osnabrück, Rep 945 Akz. 2001/054 Nr. 236).

Urteil im 2. Rakers-Prozess. StA b. LG Osnabrück, 4 Ks 2/52, Hauptakten, Bd. VII, Bl. 92–103 (Staatsarchiv Osnabrück, Rep 945 Akz. 2001/054 Nr. 237).

Urteil im 3. Rakers-Prozess. StA b. LG Osnabrück, 4 Ks 2/52, Hauptakten, Bd. IX, Bl. 1–36 (Staatsarchiv Osnabrück, Rep 945 Akz. 2001/054 Nr. 239).

Norbert Wollheim, Schreiben an den Staatssekretär des Niedersächsischen Justizministeriums und vormaligen Generalstaatsanwalts beim OLG Oldenburg, Dr. Friedrich Meyer-Abich, 10.12.1952. StA b. LG Osnabrück, 4 Ks 2/52, Handakten, Bd. I, Bl. 119–119R (Staatsarchiv Osnabrück, Rep 945 Akz. 2001/054 Nr. 231).

 

Literatur

Dirks, Christian: „Die Verbrechen der anderen“. Auschwitz und der Auschwitz-Prozess der DDR: Das Verfahren gegen den KZ-Arzt Dr. Horst Fischer. Paderborn: Schöningh 2006.

Knoch, Habbo: Die Emslandlager 1933–1945. In: Wolfgang Benz / Barbara Distel (Hg.): Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Bd. II: Frühe Lager, Dachau, Emslandlager. München: Beck 2005, S. 531–570.

Makowski, Antoni: Organisation, Entwicklung und Tätigkeit des Häftlings-Krankenbaus in Monowitz (KL Auschwitz III). In: Hefte von Auschwitz 15 (1975), S. 113–181.

Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945–1999. Hg. v. Christiaan F. Rüter u.a. Amsterdam: Amsterdam UP 1976ff. [Darin: Urteil im 1. Rakers-Prozess. Bd. X, S. 346–391; Urteil im 2. Rakers-Prozess. Bd. XIV, S. 733–738; Urteil im 3. Rakers-Prozess, Bd. XVI, S. 60–74.]

Strzelecka, Irena: Arbeitslager Gleiwitz II. In: Hefte von Auschwitz 14 (1973), S. 107–127.

Das Urteil im I.G. Farben-Prozess Der vollständige Wortlaut mit Dokumentenanhang. Offenbach: Bollwerk 1948.

Werle, Gerhard / Wandres, Thomas: Auschwitz vor Gericht. Völkermord und bundesdeutsche Justiz. München: Beck 1995.

[1] Wollheim war im September 1951 in die USA ausgewandert und sah sich nicht in der Lage, an den Gerichtsort Osnabrück zu kommen (vgl. sein Schreiben an den Staatssekretär des Niedersächsischen Justizministeriums und vormaligen Generalstaatsanwalts beim OLG Oldenburg, Dr. Friedrich Meyer-Abich, 10.12.1952. StA b. LG Osnabrück, 4 Ks 2/52, Handakten, Bd. I, Bl. 119–119R, Staatsarchiv Osnabrück, Rep 945 Akz. 2001/054 Nr. 231).

[2] Einzig Gustav Herzog, 1944 Rapportschreiber in Buna/Monowitz, sagte in der richterlichen Vernehmung vom 31.1.1953 in Passau aus: „Sicher haben Vorstellungen von Seiten der IG-Farben-Funktionäre Selektionen ausgelöst, wenn die sich über mangelnde Arbeitsleistungen heruntergekommener Häftlinge beschwerten.“ (StA b. LG Osnabrück, 4 Ks 2/52, Hauptakten, Bd. V, Bl. 262R, Staatsarchiv Osnabrück, Rep 945 Akz. 2001/054 Nr. 235). Vgl. auch Herzogs eidesstattliche Erklärung im Rahmen des Nürnberger IG Farben-Prozess (Gustav Herzog, Eidesstattliche Erklärung, 21.10.1947, NI-12069. Archiv des Fritz Bauer Instituts, Nürnberger Nachfolgeprozess Fall VI, ADB 79 (d), Bl. 44–53.) sowie seine kommissarische Vernehmung vom 20.5.1963 in Wien im Rahmen des 1. Frankfurter Auschwitz-Prozesses (LG Frankfurt am Main, 4 Ks 2/63. Archiv des Fritz Bauer Instituts, FAP-1, HA-83, Bl. 15.891–15.897).

[3] Das Urteil im I.G. Farben-Prozess Der vollständige Wortlaut mit Dokumentenanhang.Offenbach: Bollwerk 1948, S. 130.

[4] StA b. LG Osnabrück, 4 Ks 2/52, Hauptakten, Bd. VI, Bl. 1–105 (Staatsarchiv Osnabrück, Rep 945 Akz. 2001/054 Nr. 236), ebenso: Justiz und NS-Verbrechen, Bd. X, S. 346–391.