Antisemitismus in der Entschädigungsdebatte Ende der 1990er Jahre
(Peter Bölke: „Viel Zeit bleibt nicht“. In: Der Spiegel, 9.8.1999, S. 34–46, http://wissen.spiegel.de/wissen/dokument/dokument-druck.html?id=14143583&top=SPIEGEL (Zugriff am 28.8.2008).)
„Die amerikanischen Anwälte verstehen sich überdies auf das Geschäft mit der Publicity. Immer wieder wurden in den vergangenen Monaten in den USA Boykottdrohungen gegen deutsche Produkte laut. Große Firmen fürchteten um ihr Image.“
(Peter Bölke: „Viel Zeit bleibt nicht“. In: Der Spiegel, 9.8.1999, S. 34–46, http://wissen.spiegel.de/wissen/dokument/dokument-druck.html?id=14143583&top=SPIEGEL (Zugriff am 28.8.2008).)
„Aber es geht nicht allein um die moralische Verpflichtung. Viele Manager haben offensichtlich nicht kapiert, dass die Entschädigungsaktion in ihrem ureigenen Interesse liegt. Scheitert sie, wird die Welt mit dem Finger auf Deutschland zeigen, es wird Boykottaufrufe hageln, und die Klagen gegen deutsche Unternehmen vor amerikanischen Gerichten werden sich häufen. Dieser Schaden käme letztlich teurer als der Beitrag zum Fonds.“
(Klaus-Peter Schmid: Bosse an den Pranger? In: Die Zeit, 11.5.2000, S. 21, http://www.zeit.de/2000/20/200020.kolumne.xml (Zugriff am 29.8.2008).)
„SZ: Im Falle eines Scheiterns würde man nicht den Anwälten die Schuld geben, sondern den Deutschen insgesamt, nicht nur der Industrie, sondern auch der Regierung und den Menschen hierzulande. Fürchten Sie nicht Schaden für unser Ansehen?“
(„Ein ziemlich fetter Spatz in der Hand.“ Interview mit Otto Graf Lambsdorff. In: Süddeutsche Zeitung, 10.12.1999, S. 11.)
(Artikeltitel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.7.1999, S. 43.)
„Den amerikanischen Anwaltskanzleien kommt eine wichtige Rolle zu, was die Polemik gegen ihre ‚Geldgier‘ erklärt.“
(Christian Semler: Entschädigung für NS-Zwangsarbeiter: Der steinige Weg zur Rechtssicherheit. In: taz, 31.7.1999, S. 7.)
„Selbst die Opferanwälte haben, wie die Honorarfrage zeigt, nicht nur an ihre Klienten, sondern sehr wohl auch an ihr Geschäft gedacht.“
(Jürgen Jeske: Der Preis der Vergangenheit. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.12.1999, S. 1.)
Die Süddeutsche Zeitung verbreitete, dass „unter einigen US-Anwälten regelrecht Goldgräberstimmung geherrscht habe. Es soll sogar Anwälte gegeben haben, die ihre deutschen Kollegen aufsuchten, um ihnen Mandanten abzukaufen. Dabei sollen 10 000 Mark pro Mandant geboten worden sein. Vermutlich haben diese juristischen Trittbrettfahrer auf die hohen Provisionen spekuliert, die in manchen amerikanischen Prozessen abfallen – manchmal 30 bis 40 Prozent der Entschädigungssumme.“
(Anwälte mit zweifelhaftem Verdienst. In: Süddeutsche Zeitung, 16.12.1999, S. 2.)
„Der Verdacht, dass Fagan auch an sein Honorar denkt, wenn er von gequälten Menschen spricht, ist nahe liegend. US-Anwälte kassieren Erfolgshonorare, im Falle eines Vergleichs können das bis zu zehn Prozent der Vergleichssumme sein.“
(Peter Bölke: „Viel Zeit bleibt nicht“. In: Der Spiegel, 9.8.1999, S. 34–46, http://wissen.spiegel.de/wissen/dokument/dokument-druck.html?id=14143583&top=SPIEGEL (Zugriff am 28.8.2008).)
(Peter Bölke: „Viel Zeit bleibt nicht“. In: Der Spiegel, 9.8.1999, S. 34–46, http://wissen.spiegel.de/wissen/dokument/dokument-druck.html?id=14143583&top=SPIEGEL (Zugriff am 28.8.2008).)
(„Ein ziemlich fetter Spatz in der Hand.“ Interview mit Otto Graf Lambsdorff. In: Süddeutsche Zeitung, 10.12.1999, S. 11.)
„[Die] Vorstellung ist bedrückend: Etliche tausend Mark für Jahre der Zwangsarbeit. Aber hat es je gerechten Ausgleich für Unrecht geben können, für Häftlinge, Gefangene, Verschleppte, Heimatvertriebene, Bombengeschädigte? Wiedergutmachung für Nazi-Verbrechen kann es ohnehin nicht geben.“
(Das Angebot. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9.10.1999, S. 1.)
(US Justiz: Moral und Millionen. In: Manager Magazin 7/1999, http://www.manager-magazin.de/magazin/artikel/0,2828,28092,00.html (Zugriff am 28.8.2008).)
(Christoph Mestmacher / Alexander Neubacher: In Gottes Hand. In: Der Spiegel, 22.11.1999, S. 34–35, http://wissen.spiegel.de/wissen/dokument/dokument.html?id=15118771&top=SPIEGEL (Zugriff am 29.8.2008).)
„Ein einziges Mal verliert Melvyn Weiss die Fassung. ‚Erzeugt es Antisemitismus, wenn Opfer für ihre Rechte kämpfen? Sei’s drum, dann sehe ich ihn lieber offen als versteckt.‘ Weiss ist Anwalt. Jüdischer Anwalt jüdischer Opfer. Und schon ist man mitten im Problem.“[1]
Ende der 1990er Jahre berichtete die deutschsprachige Presse über die Entschädigungsverhandlungen zwischen ehemaligen NS-Zwangsarbeiter/innen und ihren Anwälten auf der einen Seite sowie der deutschen Wirtschaft und der Bundesregierung auf der anderen Seite, die schließlich zur Einrichtung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ führten. Ungeachtet dessen, dass nur ein Bruchteil der ehemaligen NS-Zwangsarbeiter/innen jüdischer Herkunft war, wurden die Klagenden in der deutschen Öffentlichkeit weitgehend als jüdische Überlebende bzw. ihre (ebenfalls jüdischen) Anwälte rezipiert. Diese Wahrnehmung prägte die publizistischen Reaktionen auf die Forderungen der ehemaligen NS-Zwangsarbeiter/innen. Die ‚Entschädigungsdebatte‘ war in vielen Teilen antisemitisch strukturiert.[2] Dazu trug nicht zuletzt das Verhalten der Verhandlungsführer der deutschen Wirtschaft sowie der Bundesregierung bei.[3] Das Ansinnen der ehemaligen NS-Zwangsarbeiter/innen, vor Gericht zu gehen – etwas, das nur in Amerika, nicht aber in Deutschland so möglich sei, wie immer wieder betont wurde[4] – und so nicht nur auf einer Entschädigung für die an ihnen begangenen Verbrechen zu bestehen, sondern implizit auch eine Anerkennung als Gleiche innerhalb eines rechtsstaatlichen Systems einzufordern, rief in Deutschland in breiten Kreisen Ablehnung und Empörung hervor. In dieser Empörung traten antisemitische Ressentiments teils versteckt, teils ganz offen hervor.
Die Geschichte der Entschädigung war von dem Bemühen der deutschen Wirtschaft geprägt gewesen, den Opfern den Status eines Subjekts mit (Menschen- und Bürger)Rechten so weit wie möglich vorzuenthalten, denn das Eingeständnis der Verletzung von Rechtenhätte bedeutet, eine Pflicht zur Entschädigung einzugestehen. Indem man die Entschädigungen als freiwillige Zahlungen bezeichnete, sprach man den Zwangsarbeitern diesen Rechtsstatus ab.[5] Sich in der Rolle dessen, der aus Wohltätigkeit, aus ‚humanitären Gründen‘ gibt, wähnend, forderte man auf der anderen Seite von und vor den Überlebenden Rechtssicherheit – und das bedeutete – zumindest in Bezug auf das Recht in den USA – Sicherheit vordem Recht, nicht durchdas Recht. In der Entschädigungsdebatte ging man teilweise so weit, die massive Einforderung von Recht durch die ehemaligen Zwangsarbeiter/innen in den 1990er Jahren als Anmaßung zu deuten. Die Tatsache, dass diese die Möglichkeit nutzten, durch Sammelklagen in den USA auf die an ihren Exporten interessierten deutschen Firmen einzuwirken, wurde als Ausdruck ihrer Unversöhnlichkeit interpretiert, als Indiz von ‚instrumentellem Denken‘ und ‚Rachsucht‘ zugleich.So entstand in maßgeblichen Teilen der öffentlichen Debatte ein Bild der ehemaligen NS-Zwangsarbeiter/innen, das sich vollkommen von dem, was ihnen angetan worden war, entkoppelte und schließlich die bekannten und zugleich in sich widersprüchlichen Vorstellungen des ‚rachsüchtigen‘ und zugleich ‚rein instrumentellen‘ Juden evozierte.
Vor allem die „jüdisch-amerikanischen Anwälte“, die in den deutschen Pressedarstellungen eine herausragende Rolle spielten, konnten vor dem Hintergrund solcher Vorzeichnungen kaum mehr als das wahrgenommen werden, was sie waren: nämlich Rechtsvertreter von Klägern mit berechtigten Anliegen. So erschien deren vermeintliche ‚Geldgier‘ in vielen Artikeln, die sich mit der Entschädigungsdebatte befassten, als eine Art mythisches Bild. Wie die Rachsucht, die man den Überlebenden unterstellte, wurde sie zu einer merkwürdig ‚natürlichen‘, scheinbar angeborenen Eigenschaft; etwas fundamental anderes als das „Gewinnstreben“ beispielsweise der deutschen Wirtschaft. Sowohl ‚Rachsucht‘ als auch ‚Geldgier‘ erschienen als alltägliche Elemente eines antisemitischen Mythos, der vom ‚Wesen‘, der ‚Natur‘ seines Objekts – der ‚Juden‘, hier in Gestalt der Überlebenden und ihrer Anwälte auftretend –, nicht von geschichtlichen Vorgängen spricht. Dabei stellt der Mythos seine Motive nicht eindeutig zur Schau, verbirgt sie aber auch nicht, sondern deformiert, wovon er zu berichten vorgibt, schillert und oszilliert zwischen Latenz und Manifestation und appelliert damit an die assoziative und intuitive Akzeptanz der angebotenen Feststellungen durch dafür aufnahmebereite Leser/innen, an die Aktivierung eines im sozialen Gedächtnis abgelagerten ‚antisemitischen Wissens‘.
Die Forderung von Jüdinnen und Juden nach Anerkennung und Behandlung als rechtlich Gleichgestellte innerhalb der westlichen, mehrheitlich christlichen Gesellschaften hatte schon im 19. Jh. antisemitische Ressentiments verstärkt und in neuen Formen zutage treten lassen. Dabei wurden sowohl das Motiv der ‚Rachsucht‘ als auch das der ‚Geldgier‘ aus dem Kanon des christlichen Antijudaismus in der Mythologie des modernen Antisemitismus aktualisiert. Beide Motive geisterten auch durch die Entschädigungsdebatte der 1990er Jahre. Anstatt nach legitimen Rechtsansprüchen der ehemaligen NS-Zwangsarbeiter/innen zu fragen und sich so mit dem Ausmaß der deutschen Verbrechen auseinanderzusetzen, wurden deren Forderungen als Vernichtungsdrohung für die deutsche Wirtschaft und damit für ganz Deutschland imaginiert.
Hauptzielscheibe der antisemitischen Ressentiments, die in deutschen Zeitungen geäußert wurden, waren jedoch die Anwälte – vor allem die amerikanischen jüdischer Herkunft unter ihnen –, die die Sammelklagen eingereicht und neben großen jüdischen Organisationen wie der Claims Conference die ehemaligen NS-Zwangsarbeiter/innen in den Verhandlungen vertraten. Diese vor allem wurden der ‚Geldgier‘ bezichtigt, immer wieder wurden in deutschen Zeitungen die wildesten Gerüchte über ihre Honorare lanciert.
Die Abneigung der deutschen Presse gegenüber den Opfervertretern trat am deutlichsten in den Portraits zutage, welche einzelnen Opfer-Anwälten in diversen Zeitungen und Zeitschriften gewidmet wurden.
Der Holocaust hat – und verstärkt durch die Gründung des Stiftungsfonds „Erinnerung und Zukunft“ für pädagogische Projekte als langwirkende Folge der Auseinandersetzung – Eingang in die nationale Selbstkonstitution Deutschlands gefunden. In den Täter-Opfer-Verdrehungen der Entschädigungsdebatte diente er jedoch der Stärkung eines deutschen ‚Wir‘ gegenüber den ‚jüdischen Angreifern‘, obwohl aus dem NS gerade zu lernen gewesen wäre, dass das ‚Wir‘ die größte Gefahr ist. Max Horkheimer hatte schon in den fünfziger Jahren die Funktion deutscher Schuldbekenntnisse beschrieben: „Immer wieder zu formulieren: das Schuldbekenntnis der Deutschen nach der Niederlage des Nationalsozialismus 1945 war ein famoses Verfahren, das völkische Gemeinschaftsempfinden in die Nachkriegsperiode hinüberzuretten. Das Wir zu bewahren war die Hauptsache [...] Das Wir ist die Brücke, das Schlechte, das den Nazismus möglich machte.“[17]
(MN)