Glossar

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Das Verfahren „Wollheim gegen I.G. Farben“

 a  Der Oberingenieur Max Faust beispielsweise sagte aus: „Wenn über die Zuständigkeit für die Beschäftigung von Häftlingen die Rede ist, so muss ich klar stellen, dass die IG nicht verantwortlich war für die Unterbringung, die Verpflegung, Kleidung, kurz für die Festlegung der personellen Sachen des einzelnen Häftlings, vielmehr war dies ausschliesslich Aufgabe der SS.“

(Max Faust, Zeugenvernehmung, 4.12.1952, HHStAW, Abt. 460, Nr. 1424 (Wollheim gegen IG Farben), Bd. I, Bl. 164R–171R, hier Bl. 165.)

 

Stattdessen habe die I.G. versucht, Hilfe zu leisten: „Ich möchte noch zu der Behandlung der Häftlinge sagen, dass ich die ganzen Behauptungen als masslos übertrieben bezeichnen muss. Ich fürchte, dass der Kläger in sehr vielen Fällen überhaupt nicht wußte, um wen es sich handelte […] Es kann also nicht sein, dass sich ausgerechnet das Personal der IG durch besondere Brutalität ausgezeichnet habe. […G]erade Herr Dürrfeld hat sich während der ganzen Bauzeit immer wieder die größten Sorgen gemacht, um das leibliche Wohl der auf der Baustelle beschäftigten Arbeiter einschliesslich der Häftlinge […]“

(Max Faust, Zeugenvernehmung, 4.12.1952, HHStAW, Abt. 460, Nr. 1424 (Wollheim gegen IG Farben), Bd. I, Bl. 164R–171R, hier Bl. 167R–170.)

 

 b  In der Urteilsbegründung bewertete das Gericht auch die Entlastungszeugen von I.G.-Farben, die einen negativen Eindruck hinterlassen hatten: „Das Gericht will auch nicht verschweigen, daß die zunächst vernommenen Zeugen der Beklagten […] im allgemeinen keinen guten Eindruck auf es gemacht haben. Diese Zeugen waren es, die versuchten, alles abzustreiten, sich mit Nichtwissen oder Unzuständigkeit zu entschuldigen oder abwegige theoretische Ausführungen zu machen der sich angesichts des Unglücks und Todes von vielen Tausenden von Menschen, ihrer Mitarbeiter, auf hässliche Ausflüchte wie z.B. ‚das war nicht mein Ressort‘ zurückzuziehen oder sogar unverständliche, jedenfalls unmenschliche und auch sachlich unrichtige Berechnungen anzustellen [...] Mit dem Nichtwissen der Beklagten verhalte es sich im übrigen wie es wolle: Aus den erwähnten Aussagen der Zeugen der Beklagten folgert die Kammer in jedem Fall eine entsetzliche Gleichgültigkeit der Beklagten und ihrer Leute gegenüber dem Kläger und den gefangenen Juden, eine Gleichgültigkeit, die nur dann verständlich ist, wenn man mit dem Kläger unterstellt, die Beklagte und ihre Leute hätten damals den Kläger und die jüdischen Häftlinge tatsächlich nicht für vollwertige Menschen gehalten, denen gegenüber eine Fürsorgepflicht bestand.“

(Urteil im Wollheim Prozess, 10.6.1953. HHStAW, Abt. 460, Nr. 1424 (Wollheim gegen IG Farben), Bd. III, Bl. 446–488, hier Bl. 480–481.)

 

 c  In seinem „Plädoyer für die Menschlichkeit“ sagte Otto Küster: „Die Beklagte hat viel, allzuviel gesprochen und geschrieben, um ihre Mitverantwortung für das, was bei Auschwitz IG gelitten wurde, abzuschütteln. Sie hat, wie es dem zu gehen pflegt, der eine im Kern nicht haltbare Sache verficht, nach langen sorgfältigen Ausführungen schließlich so erschreckende Behauptungen vorgebracht wie die, bei der Versklavung des Klägers handle es sich um einen Fall ‚der allgemeinen und gleichen Erfassung zur Leistung von Diensten im öffentlichen Interesse‘ (II 111) […A]ber dies Gefühl eigener Harmlosigkeit ändert doch nichts daran, […] dass ein Werk der IG den Namen des Ortes trug, der – es sei denn, die bisherige Geschichte habe ein Ende – in die Jahrhunderte hinaus als der Ort der irdischen Hölle bekannt bleiben wird.“

(Otto Küster, Plädoyer, 1.3.1955. HHStAW, Abt. 460, Nr. 1424 (Wollheim gegen IG Farben), Anlage Bd. II, 26 Seiten, S. 25–26.)

Ein Gläubiger-Aufruf durch die Tripartite IG Farben Control Group (TRIFCOG) in der Tagespresse war 1950 Anlass für Norbert Wollheim, bei dem Frankfurter Rechtsanwalt Henry Ormond anzufragen, welche Erfolgsaussichten er als ehemaliger Zwangsarbeiter der I.G. Farben in einem Zivilprozess gegen I.G. Farben i.L. habe.

 

Nachdem durch die zuständigen alliierten Stellen die Klage auf unberechtigte Bereicherung durch vorenthaltenen Lohn zugelassen worden war, konnte diese im November 1951 beim Landgericht Frankfurt am Main eingereicht werden. Norbert Wollheim und Henry Ormond hatten eine Forderung in Höhe von 10.000 DM gestellt. Dieser Betrag war eher prozessualen Formalitäten geschuldet, als dass er eine angemessene Entschädigung für das erlittene Unrecht und die vorhandenen Schäden darstellte.

 

Das Verfahren erregte erhebliches öffentliches Aufsehen. Der „Wollheim-Prozess“ wurde rasch als Musterprozess wahrgenommen, in dem die Verantwortlichkeit von Firmen und Managern für Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen während des NS-Regimes verhandelt wurde. Wollheim und sein Anwalt sahen sich als Stellvertreter für die vielen von I.G. Farben ausgebeuteten Häftlinge des KZ Buna/Monowitz. Die Beklagten auf der anderen Seite entwickelten in ähnlicher Weise das Bewusstsein, stellvertretend für alle deutschen Firmen Ansprüche ehemaliger Zwangsarbeiter/innen und KZ-Häftlinge abwehren und jede Verantwortung ableugnen zu müssen.

 

Die Verteidigung von I.G. Farben i.L. beharrte folgerichtig lange Zeit auf der Abwehr jeglicher Verantwortung für das Schicksal der Häftlingssklaven in ihrem Werk I.G. Auschwitz.  a  Die Argumentation der Verteidigung wiederholte die aus den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen bekannten Muster: die Wirtschaft habe nur als Erfüllungsgehilfe des NS-Regimes gehandelt und nicht aus eigenem Willen. Alle Verantwortung liege daher ausschließlich beim Staat. Für die Behandlung der KZ-Häftlinge seien ausschließlich die Wachen der SS zuständig gewesen. Und schließlich seien die Häftlinge willig zur Arbeit bei I.G. Farben gewesen, da es ihnen im Stammlager Auschwitz schlechter ergangen sei. Zudem sei an die bei I.G. Farben beschäftigten Häftlinge die nahrhafte „Buna-Suppe“ ausgegeben worden.

 

Die Darstellungen der vom Landgericht vernommenen Zeugen konnten nicht gegensätzlicher ausfallen: Die einen beschrieben die Hölle auf Erden, in den Worten der anderen erschien Buna/Monowitz eher wie ein Erholungslager.

 

Das erstinstanzliche Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 10. Juni 1953 gab Norbert Wollheim in allen Punkten Recht und verurteilte I.G. Farben zur Zahlung von 10.000 DM. In der Begründung des Urteils bewertete das Gericht auch die „entsetzliche Gleichgültigkeit der Beklagten“[1] gegenüber ihren Opfern, wie sie die Entlastungszeugen der I.G. Farben im Gerichtssaal zum Ausdruck gebracht hatten.  b 

 

Gegen dieses Urteil legte I.G. Farben i.L. Berufung ein. Zwei Gütetermine zwischen dem Kläger und der Beklagten im Juli und Oktober 1954 scheiterten. Nach dem Sieg in der ersten Instanz hatten sich Norbert Wollheim und sein Anwalt Henry Ormond an Nahum Goldmann und die Claims Conference gewandt, da sie die Schwierigkeiten sahen, die noch vor ihnen lagen. In der Zwischenzeit meldete sich eine große Zahl weiterer Überlebender bei Ormond und anderen Stellen, um ihrerseits gegen I.G. Farben vor Gericht zu gehen. Seitens der Claims Conference war man lebhaft am Ergebnis dieses Testfalles interessiert. 1955 fand die mündliche Verhandlung vor dem Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am Main statt. Die Verteidigung war durch eine Vielzahl von bekannten Rechtsanwälten vertreten, die bereits in den Kriegsverbrecherprozessen in Nürnberg als Verteidiger aufgetreten waren. Auf der Seite von Norbert Wollheim traten nun ebenfalls weitere Anwälte auf, wie z. B. Otto Küster, der in seinem Plädoyer am 1. März 1955 beklagte, dass die I.G. Farben i.L. nicht eingesehen hatte, dass das entsetzlichste Unrecht im deutschen Namen und durch Mitwirkung der Industrie begangen worden war.  c 

 

Dennoch verhandelten die Prozessgegner außerhalb des Gerichtssaals weiter: für die Vertreter der I.G. Farben i.L. ging es vorrangig darum, einen Präzedenzfall zu verhindern. Im Februar 1957 kam schließlich eine außergerichtliche Einigung zu Stande: I.G. Farben i.L. verpflichtete sich, 30 Millionen DM an die Überlebenden von I.G. Auschwitz zu zahlen. Am 19. April 1957 erließ die Bundesregierung zu Gunsten der I.G. Farben i.L. ein „Aufrufgesetz“, um die verlangte ‚Rechtssicherheit‘ für I.G. Farben i.L. zu schaffen, d.h. um die Gefahr von Folgeprozessen auszuräumen. Danach waren alle früheren Zwangsarbeiter der I.G. Farben aufgerufen, ihre Forderungen bis zum 31. Dezember 1957 geltend zu machen, andernfalls verfielen sie.

 

Von dem zugesagten Betrag behielt die I.G. Farben i.L. 3 Millionen DM zurück; es war vereinbart, dass die nicht-jüdischen Zwangsarbeiter ihre Forderungen bei der I.G. direkt anzumelden hatten. Die übrigen 27 Millionen DM gingen an die eigens dafür gegründete Compensation Treuhand GmbH mit Sitz in Frankfurt am Main. Sie hatte die Aufgabe, das Geld an die Berechtigten in 42 Ländern auszuzahlen. Neben den fast 5.900 Überlebenden, die eine Zahlung von 5.000 DM erhielten (bei weniger als 6 Monaten Haft 2.500 DM), bekamen auch über 1.800 notleidende Hinterbliebene Zahlungen aus den Zinseinkünften, die ca. 3,5 Millionen DM ausmachten.

 

Norbert Wollheim war im September 1951 in die USA emigriert. Doch auch in der Folgezeit nahm er aktiv am Prozess wie auch später an der Verteilung der Mittel aus dem Vergleich mit I.G. Farben i.L. teil. Er gehörte zu der New Yorker Gruppe ehemaliger Buna/Monowitz-Häftlinge, die Anträge aus den Vereinigten Staaten auf ihre individuelle Berechtigung überprüfte.

(PH)



Quellen

Max Faust, Zeugenvernehmung, 4.12.1952. HHStAW, Abt. 460, Nr. 1424 (Wollheim gegen IG Farben), Bd. I, Bl. 164R–172R.

Otto Küster, Plädoyer, 1.3.1955. HHStAW, Abt. 460, Nr. 1424 (Wollheim gegen IG Farben), Anlage Bd. II, 26 Seiten.

Urteil im Wollheim Prozess, 10.6.1953. HHStAW, Abt. 460, Nr. 1424 (Wollheim gegen IG Farben), Bd. III, Bl. 446–488.

 

Literatur

Benz, Wolfgang: Der Wollheim-Prozeß. Zwangsarbeit für die I.G. Farben in Auschwitz. In: Ludolf Herbst / Constantin Goschler (Hg.): Wiedergutmachung in der Bundesrepublik Deutschland. München: Oldenbourg 1989, S. 303–326.

Ferencz, Benjamin B.: Lohn des Grauens. Die verweigerte Entschädigung für jüdische Zwangsarbeiter. Ein Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte. Frankfurt am Main: Campus 1981.

[1] Urteil im Wollheim Prozess, 10.6.1953. HHStAW, Abt. 460, Nr. 1424 (Wollheim gegen IG Farben), Bd. III, Bl. 446–488, hier Bl. 481.