Der Theatertext Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen von Peter Weiss (1965)
Ausgehend vom Material des 1. Frankfurter Auschwitz-Prozesses und noch während er andauerte geschrieben, wurde Peter Weiss‘ Theatertext Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen am 19. Oktober 1965 zugleich in 15 Inszenierungen und szenischen Lesungen an verschiedenen west- und ostdeutschen Theatern uraufgeführt.
Peter Weiss hatte selbst als Beobachter wiederholt den Prozess besucht und zog Bernd Naumanns regelmäßige Reportagen aus dem Gerichtssaal, die in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen, sowie weitere Presseberichterstattung und ausführliche Literaturrecherchen über Auschwitz als Material heran. Weiss hatte noch im Januar 1939 aus der ČSR über die Schweiz nach Schweden emigrieren können, während Freunde, die in Prag zurückblieben, später in Auschwitz ermordet wurden. Er fühlte sich als ein Entkommener, der auch für diesen Ort bestimmt gewesen sei, beladen mit einer Schuld, einer Verantwortung, das Geschehene zu erinnern. „Diese Schuld war nicht zu tilgen, aber sie nahm eine andere Form an, wenn man Verantwortung auf künstlerischer und moralischer Ebene übernahm.“[1]
Obwohl Die Ermittlung den Zeugenaussagen im Auschwitz-Prozess teilweise bis in die Formulierungen folgt, ist sie weder einer Theatertradition verpflichtet, die auf der Bühne eine Art gerichtlicher Ermittlung zum Zwecke einer narrativen Wahrheitsfindung inszeniert, an deren Ende die Lösung eines Falles stände, wie etwa in Heinrich von Kleists Der zerbrochne Krug, noch wäre sie als Dokumentartheater über den Auschwitz-Prozess angemessen beschrieben. Die elf Gesänge beschreiben in Form von Zeugenaussagen – orientiert an der Topographie von Auschwitz – den Weg von der Rampe über verschiedene (Tötungs)Stationen des Lagers hin zu den Gaskammern im abschließenden „Gesang von den Feueröfen“. Alle Orte im Lagerkomplex, die von den Zeugen in Erinnerung gerufen werden befinden sich im Stammlager Auschwitz I bzw. in Birkenau (Auschwitz II).[2] Die umliegenden Lager, unter ihnen das KZ Buna/Monowitz, werden nur als Hintergrund aufgerufen, in denen Firmen wie Krupp, Siemens oder I.G. Farben Häftlinge als Sklavenarbeiter ausbeuteten, doch erscheinen sie nicht als Handlungsorte, von denen die Zeugen berichten. Sie entfalten aber gerade in den ersten Gesängen Präsenz als einer der Gründe für das Bestehen des Lagers. Dies fällt besonders auf, da Die Ermittlung die soziokulturellen und ideologischen Entstehungsbedingungen von Auschwitz weitgehend ausblendet, von Antisemitismus wird nicht gesprochen, vielmehr werden die Opfer nur als „Verfolgte“ nie z.B. als Juden und Jüdinnen oder Sinti und Roma, also rassistisch Verfolgte, benannt. Daraus könnte der Eindruck entstehen, es habe sich vor allem um politisch Verfolgte gehandelt, die zudem, wie es einige Sätze des Stückes nahelegen, in ihren Positionen als Täter und Opfer austauschbar gewesen wären.[3] Erstaunlich ist, wie stark diese im Stück nur angedeutete Verstehensmöglichkeit in der zeitgenössischen Theaterkritik aufgegriffen wurde, so bei Günther Rühle und Ernst Wendt, während zugleich ebenfalls vermieden wurde, z.B. von Juden und Jüdinnen zu sprechen. Andererseits ist der Gegensatz von Tätern und Opfern, wie sie als Sprechinstanzen erscheinen, strukturbildend für den Aufbau der Ermittlung.
Peter Weiss folgt in seiner gesellschaftstheoretischen Gestaltung des Materials des Auschwitz-Prozesses einer Analyse des Nationalsozialismus als höchste Ausprägung kapitalistischer Herrschaft, wie sie in der marxistischen Theoriebildung seit den 1930er Jahren dominierte. Diese einseitige Betonung der politökonomischen Aspekte des Nationalsozialismus bringt eine gewisse Blindheit für die historische Besonderheit von Auschwitz mit sich, insbesondere für die NS-Rassenideologie und den Antisemitismus.[4]
Vom Auschwitz-Prozess ist nur das Material der Zeugenaussagen genommen, über den Prozessverlauf, Anklage oder Urteil ist aus derErmittlung nichts zu erfahren. Als Sprechstimmen treten ein Richter, ein Ankläger, ein Verteidiger, 18 Angeklagte und 9 Zeugen auf. Weder die Geschworenen des Auschwitz-Prozesses noch die Öffentlichkeit sind auf der Bühne vertreten. Während die Zeugen, von denen zwei Zeugen der Verteidigung sind, in Vertretung der über 300 Zeugen des Prozesses auftreten und im Laufe der Gesänge je mehrere Positionen der Zeugenschaft sprechen, die verschiedenen Biografien entstammen, tragen die Angeklagten die Namen von 18 Angeklagten des Auschwitz-Prozesses. In ihrem Verhalten sind sie jedoch so stereotyp – vor allem verbindet sie ein gemeinsames Lachen über im Prozess Vorgebrachtes, häufig am Ende eines Gesangs –, dass sie als Gruppe erscheinen, „die sich mit den bestehenden Verhältnissen der Bundesrepublik ganz im Einklang weiß und für eine Vergangenheitsbewältigung einsteht, die keine war.“[5]
Die juristische Bewertung der Qualität von Zeugenaussagen, Dokumenten oder Indizien spielt für Die Ermittlung keine Rolle, vielmehr werden die unterschiedlichen Aussageformen in eine einheitliche kunstlose Verssprache umgeformt, die keinen Sprachunterschied zwischen den einzelnen Sprechinstanzen ausweist. „Bei Weiss wird auch nicht gestottert, nicht gezögert, nicht geweint, nicht geschrien, nicht um Worte gerungen. Die bei ihm auftretenden Zeugen schweigen höchstens, jedenfalls bleiben sie alle sachlich und recht präzise.“[6] Was vor Gericht in unterschiedenen Aussageformen und zu unterschiedlichen Zeiten des Prozesses vorgebracht wurde, wird thematisch in die einzelnen Gesänge arrangiert; alles wird zu mündlicher Aussage, die Zeugenaussage auf der Bühne erscheint als ein Konzentrat der vielfältigen Aussageformen des Prozesses. Z.B. erscheint ein Brief der I.G.-Werksleitung über ihre gute Zusammenarbeit mit der SS beim Aufbau des Werks in Auschwitz und dem Einsatz von Zwangsarbeitern folgendermaßen:
Ankläger:
Das Gericht ist im Besitz von Schreiben
in denen die segensreiche Freundschaft
zwischen der Lagerverwaltung und der Industrie
erwähnt wird
Es heißt dort unter anderem
Anläßlich eines Abendessens
haben wir weiterhin alle Maßnahmen festgelegt
welche die Einschaltung
des wirklich hervorragenden Betriebs des Lagers
zugunsten der Buna-Werke betreffen[7]
Deutlich ist die Umformung in eine relativ nüchterne gleichmäßige Sprache zu erkennen, die keinerlei Satzzeichen kennt; neue Sätze werden nur durch Großschreibung am Zeilenanfang hervorgehoben. Die Gleichförmigkeit der Sprache zeigt an, dass es sich nicht um eine Dokumentation des Prozesses handelt, sondern um ein Oratorium, das in Peter Weiss‘ Plan einer Göttlichen Komödie für diese Zeit das Paradiso bilden sollte,[8] also den Ort, an dem die entscheidenden philosophischen Fragen das Verhalten der Menschen betreffend gestellt werden, allerdings ein Paradiso ohne Transzendenz und Erlösungshoffnung. Vielmehr scheint die Möglichkeit, etwas von dem zu erkennen, das sich nicht darstellen lässt,[9] einzig in der Befragung der Erinnerungen der Zeugen zu bestehen. Nur aus der Perspektive der Überlebenden, des Überlebens lässt sich etwas über das Geschehen in Auschwitz und die dort Ermordeten erfahren. In ihrer Form der Gedächtniskonstruktion, die auch ein Totengedenken ist, knüpfe die Ermittlung, so Burkhardt Lindner, „an die Tradition der Memoriabildung an, in der das Geschehen als Geschehenes erinnert wird. Und diese Memoriabildung bezieht sich nicht auf den Prozess, jedenfalls nicht primär, sondern auf Auschwitz selbst.“[10]
(MN)