Glossar

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Die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“

 a  „Bei den Zahlungen handelt es sich […] um freiwillige Zahlungen ohne rechtliche Verpflichtung. Mit ihnen wird […] das Ziel verfolgt, eine Grundlage zu schaffen, um den Sammelklagen in den USA begegnen zu können und damit verbunden drohenden Imageverlust auf dem dortigen Markt und weltweit abzuwenden und wirtschaftliche Sanktionen in Form von Lizenzentzug und Boykottaufrufen zu vermeiden. Die Beiträge dienen insoweit der Sicherung und Aufrechterhaltung des unternehmerischen Ansehens, d.h. der Wettbewerbsposition der Unternehmen. Der nach § 4 Abs. 4 EStG [Einkommenssteuergesetz] notwendige betriebliche Sachzusammenhang zwischen Aufwendungen und Betrieb ist damit gegeben. […] Insbesondere stellen die Auszahlungen keinen nachträglichen Arbeitslohn dar, da die frühere Zwangsbeschäftigung kein ‚Dienstverhältnis‘ im steuerlichen Sinne […] begründete.“

(Rundschreiben des Bundesministeriums der Finanzen an die Finanzämter, 3.2.2000, zit. n. Ulla Jelpke / Rüdiger Lötzer: Geblieben ist der Skandal – ein Gesetz zum Schutz der deutschen Wirtschaft. In: Ulrike Winkler (Hg.): Stiften gehen. NS-Zwangsarbeit und Entschädigungsdebatte. Köln: PapyRossa 2000, S. 235–250, hier S. 246–247.)

“With a great relief at having salvaged the agreement, I met the German delegation in their holding room off the main hallway of the Foreign Ministry, expecting congratulations. Instead I was met with a stunning invective few American officials have ever heard from a negotiator in a friendly country, particularly one from the private sector. […] Manfred Gentz [Finanzvorstand bei DaimlerChrysler und einer der Protagonisten der „Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft“] concluded his bill of particulars against the U.S. government by a final insult. He was ‘heavily disappointed’, he said, and far from the partnership we had promised […] to secure legal peace, there had been ‘really a dictatorship of the U.S.’.”[1]

(US-Unterhändler Stuart Eizenstat)

 

Der Deutsche Bundestag billigte am 6. Juli 2000 das von der Bundesregierung eingebrachte und mit allen Fraktionen abgestimmte Gesetz zur Errichtung einer Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“.[2] Otto Graf Lambsdorff, der Unterhändler der Bundesregierung in den vorangegangenen Verhandlungen, bezeichnete den Gesetzesentwurf bei dieser Gelegenheit als „große Leistung“ einer „Allparteien-Koalition“ und formulierte die Erwartungen seitens der BRD: „Die von einem US-Richter zusammengeführten Sammel- und Einzelklagen müssen vom Tisch.“ Dass die „Mehrzahl der Unternehmen“ zu diesem Zeitpunkt noch nicht der „Stiftungsinitiativeder deutschen Wirtschaft beigetreten war, bezeichnete Lambsdorff als „öffentliches Ärgernis“; es gebe „keinen Grund, sich der Gesamtverantwortung der deutschen Wirtschaft zu entziehen“.[3] Die gesamte CDU/CSU-Fraktion gab eine förmliche „Erklärung zur Abstimmung“ ab, in der sie bekräftigte, dass „sich auch durch dieses Gesetz die Frage der Reparationen nicht neu stellt“.[4]

 

Wenige Tage später, am 17. Juli 2000, wurden in Berlin zwei Dokumente beschlossen. Zuerst gaben die Regierungen der BRD, der USA, der Republik Belarus, Tschechiens, Israels, Polens, der Russischen Föderation und der Ukraine sowie die Claims Conference und die Stiftungsinitiative eine gemeinsame Erklärung ab. Der Betrag von 10 Milliarden DM wurde als abschließende Obergrenze festgeschrieben und die Bundesstiftung zum einzigen und ausschließlichen Forum zur Geltendmachung von Ansprüchen ehemaliger Zwangsarbeiter/innen bestimmt; ein Rechtsanspruch auf Zahlungen aus dem Stiftungsfonds wurde verneint. In einem Berliner Abkommen zwischen den Regierungen der USA und der BRD erklärte sodann die US-Regierung, keinerlei Reparationsforderungen an die BRD zu stellen und neuerliche aus den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs oder den Verfolgungsmaßnahmen des Nationalsozialismus resultierende Entschädigungsansprüche Dritter abzuwehren. Außerdem kündigte die US-Regierung die Abgabe eines ‚statement of interest‘ an, demzufolge die durch die Stiftungsgründung in die Wege geleitete abschließende Regelung der Frage der Entschädigung von NS-Zwangsarbeiter/innen im „außenpolitischen Interesse der USA“ liege.[5]

 

Den westdeutschen ‚Wiedergutmachungsleistungen‘ stand seit Beginn der Auseinandersetzung um die Frage der Entschädigung von Zwangsarbeiter/innen eine Gegenleistung in Form der ökonomischen, politischen und militärischen Westintegration der BRD gegenüber. Dieser „Grundsatz von Leistung und Gegenleistung“ wird auch von Seiten der „Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft“ als bestimmendes Strukturelement für die Verhandlungen über die Entschädigung der NS-Zwangsarbeiter/innen benannt.[6] Die Bereitschaft, moralische und finanzielle „Verantwortung“ zu übernehmen, war an die Zusicherung von „Rechtsfrieden“, den Schutz vor Sammelklagen ehemaliger Zwangsarbeiter/innen in den USA, gekoppelt.

 

Der langjährige Repräsentant der Claims Conference in der BRD und Holocaust-Überlebende Karl Brozik bezeichnete dies nach seinen Erfahrungen bei den Verhandlungen als ein „vertrautes Muster“[7]. Verhandlungsbereit zeigten sich die betroffenen Unternehmen zumeist erst, nachdem sie von ehemaligen Zwangsarbeiter/innen auf Schadensersatz verklagt worden waren. Das Ziel der Firmenvertreter bei den Verhandlungen war stets, die zu zahlende Entschädigungssumme möglichst gering zu halten. Gezahlt wurde nach jahrelangen Konsultationen meist erst, wenn die amerikanische Presse begann, sich mit dem Vorgang zu befassen, und die ökonomischen Interessen der betroffenen Unternehmen direkt berührt waren. Grundsätzlich betonten die betroffenen Unternehmen, dass ihre ‚Kompromissbereitschaft‘ einer ‚moralisch-humanitären Haltung‘ geschuldet sei und lehnten jede Anerkennung einer Rechtspflicht zur Zahlung von Entschädigungsgeldern ab, während sie im Gegenzug darauf bestanden, dass die Vertreter der Claims Conference für alle Zeiten auf juristische Schritte gegen sie verzichteten.

 

Mehr als ein Jahr bevor die ersten Zwangsarbeiter/innen Gelder aus dem Stiftungsfonds erhielten, wies der amtierende Bundesfinanzminister Hans Eichel (SPD) in einem Rundschreiben alle Finanzämter an, Zahlungen der Industrie an die Stiftung als steuerbegünstigt einzustufen,[8] und stellte bei dieser Gelegenheit noch einmal die Rechtsauffassung der Bundesregierung zur Entschädigung von NS-Zwangsarbeiter/innen klar.  a 

 

In der Entschädigungsdebatte hatten sowohl Vertreter der deutschen Wirtschaft als auch der Bundesregierung das nationale Interesse an einer Einigung betont, als deren Hauptziel immer wieder die Wahrung des ‚Ansehens Deutschlands‘ im Ausland beschrieben wurde. Plötzlich fanden sich die Firmen, die auch Monate nach der Einigung noch nicht in die Stiftung eingezahlt hatten, mit dem Vorwurf konfrontiert, sich der nationalen Verantwortung zu entziehen.

 

Plangemäß hat die Stiftung 2006 nach Abschluss der Auszahlungen an Antragsberechtigte ihre Tätigkeit bis auf die Finanzierung von pädagogischen Projekten durch den Fonds „Erinnerung und Zukunft“ eingestellt. Allein in den Grenzen des Deutschen Reiches wurden 9 Millionen Menschen als Zwangsarbeiter/innen ausgebeutet. Erst mehr als 50 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs konnten durch die Zahlungen der Stiftung rund 1,66 Millionen Menschen erreicht werden und erhielten Entschädigungsgeld.

(GK/PEH)



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[pdf] Peer Heinelt_Die Entschädigung der NS-Zwangsarbeiterinnen und -Zwangsarbeiter

  

Literatur

Brozik, Karl: Die Entschädigung von nationalsozialistischer Zwangsarbeit durch deutsche Firmen. In: Klaus Barwig / Günter Saathoff / Nicole Weyde (Hg.): Entschädigung für NS-Zwangsarbeit. Rechtliche, historische und politische Aspekte. Baden-Baden: Nomos 1998, S. 33–47.

Brozik, Karl / Matschke, Konrad (Hg.): Luxemburger Abkommen. 50 Jahre Entschädigung für NS-Unrecht. Frankfurt am Main: Societäts-Verlag 2004.

Eizenstat, Stuart E.: Imperfect justice: looted assets, slave labor and the unfinished business of World War II. New York: Public Affairs 2003.

Hennies, Jörg Hagen: Entschädigung für NS-Zwangsarbeit vor und unter der Geltung des Stiftungsgesetzes vom 2.8.2000. Baden-Baden: Nomos 2006.

Jansen, Michael / Saathoff, Günter (Hg.): „Gemeinsame Verantwortung und moralische Pflicht“. Abschlussbericht zu den Auszahlungsprogrammen der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“. Göttingen: Wallstein 2007.

Jelpke, Ulla / Lötzer, Rüdiger: Geblieben ist der Skandal – ein Gesetz zum Schutz der deutschen Wirtschaft. In: Ulrike Winkler (Hg.): Stiften gehen. NS-Zwangsarbeit und Entschädigungsdebatte. Köln: PapyRossa 2000, S. 235–250.

Meng, Richard: Bundestag billigt Entschädigung. In: Frankfurter Rundschau, 7.7.2000, S. 1.

Spiliotis, Susanne-Sophia: Verantwortung und Rechtsfrieden. Die Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft. Frankfurt am Main: Fischer 2003.

[1]Stuart E. Eizenstat: Imperfect justice: looted assets, slave labor and the unfinished business of World War II. New York: Public Affairs 2003, S. 275–277.

[2] 556 Abgeordnete stimmten dafür, 42 Parlamentarier der CDU/CSU-Fraktion stimmten dagegen, 22 Abgeordnete aus den Reihen von CDU/CSU, FDP und PDS enthielten sich; vgl. Richard Meng: Bundestag billigt Entschädigung. In: Frankfurter Rundschau, 7.7.2000, S. 1.

[3] Zit. n. Meng: Bundestag billigt Entschädigung.

[4] Zit. n. Meng: Bundestag billigt Entschädigung.

[5] Berliner Abkommen/Berlin Agreement vom 17.7.2000, Art. 2 Abs. 1, zit. n. Jörg Hagen Hennies: Entschädigung für NS-Zwangsarbeit vor und unter der Geltung des Stiftungsgesetzes vom 2.8.2000. Baden-Baden: Nomos 2006, S. 191.

[6] Susanne-Sophia Spiliotis: Verantwortung und Rechtsfrieden. Die Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft. Frankfurt am Main: Fischer 2003, S. 195. In seinem Vorwort schreibt Manfred Gentz, die „Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft“ habe Spiliotis „beauftragt, die Geschichte dieses einmaligen Projektes aufzuarbeiten.“ (Ebd., S. 11).

[7] Karl Brozik: Die Entschädigung von nationalsozialistischer Zwangsarbeit durch deutsche Firmen. In: Klaus Barwig / Günter Saathoff / Nicole Weyde (Hg.): Entschädigung für NS-Zwangsarbeit. Rechtliche, historische und politische Aspekte. Baden-Baden: Nomos 1998, S. 33–47, hier S. 43.

[8] Durch die steuerliche Absetzbarkeit der Zahlungen an den Stiftungsfonds halbierte sich de facto der von der Wirtschaft aufzubringende Anteil, so dass der Bund letztlich nicht wie ursprünglich vereinbart die Hälfte der Entschädigungssumme aufbringen musste, sondern drei Viertel, also 7,5 Milliarden DM.