Glossar

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Entschädigung durch die Bundesrepublik Deutschland

 a  Die Motivlage der westdeutschen Regierung beim Abschluss der ‚Globalabkommen‘ erklärte der Völkerrechtler und Diplomat Helmut Rumpf unter Berufung auf das Auswärtige Amt wie folgt:

„Es war aber nicht allein das moralisch-humanitäre Motiv, das zu diesen Vereinbarungen Anlass gab, sondern auch das Bestreben‚ ‚die bilateralen Beziehungen zu den verbündeten und befreundeten Ländern durch Pflege der politischen und persönlichen Kontakte auszubauen‘. Dabei sollten ‚die noch offenen Fragen im Verhältnis zu diesen Staaten abschließend geklärt‘ werden. Konkret bedeutete das nicht zuletzt die Absicht, die in einigen dieser Länder einflussreichen Gruppen jüdischer und anderer Verfolgter auszusöhnen und die Möglichkeit von Störungen der bilateralen Beziehungen zu verringern, die von diesen Gruppen, besonders durch ihren Einfluss in den Massenmedien, ausgehen konnten.“

(Helmut Rumpf: Völkerrechtliche und außenpolitische Aspekte der Wiedergutmachung. In: Ernst Féaux de la Croix / Helmut Rumpf: Der Werdegang des Entschädigungsrechts unter national- und völkerrechtlichem und politologischem Aspekt (= Die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts durch die Bundesrepublik Deutschland. Hg. v. Bundesminister der Finanzen in Zusammenarbeit mit Walter Schwarz, Bd. 3). München: Beck 1985, S. 311–346, hier S. 334.)

Bereits seit dem Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 prägte ein Verständnis von Entschädigung als Angelegenheit zwischen Staaten und nicht als Regelung der Ansprüche von einzelnen Geschädigten gegen einzelne Schädiger (also Firmen oder Personen) die Auseinandersetzungen um die Entschädigung von NS-Opfern. 1953 schloss die Bundesregierung das Londoner Abkommen, in dem die (stark reduzierte) Zahlung der Auslandsschulden Deutschlands geregelt und jede weitere Verhandlung über Reparationen bis zu einem Friedensvertrag verschoben wurde.

 

Erst langwierige Verhandlungen des Staates Israel und der Claims Conference mit der Bundesrepublik Deutschland führten 1952 zu dem sogenannten Luxemburger Abkommen. Protokoll 1 des Abkommens schreibt die Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland fest, die individuelle Entschädigung von NS-Unrecht gesetzlich zu regeln. Das erste bundeseinheitliche Entschädigungsgesetz von 1953, das sogenannte Bundesergänzungsgesetz, legte die zu entschädigenden Personengruppen, die zu berücksichtigenden Schadensbestände, die Befriedigung der Entschädigungsansprüche und die zuständigen Behörden und Verfahrensvorschriften fest. Dieses Gesetz wurde drei Jahre später durch das Bundesentschädigungsgesetz (BEG) abgelöst. Es erweiterte den Kreis der Anspruchsberechtigten auf juristische Personen sowie Künstler/innen und Wissenschaftler/innen, Hinterbliebene von ermordeten Verfolgten, irrtümlich Verfolgte und Personen, die verfolgt worden waren, weil sie einem Verfolgten nahe standen. Doch hielt das BEG am sogenannten subjektiv-persönlichen Territorialitätsprinzip fest, wonach nur diejenigen NS-Opfer Leistungen beantragen konnten, die am Stichtag des 31. Dezember 1952 (ursprünglich 1. Januar 1947) in der BRD oder in Westberlin gewohnt hatten oder zur Zeit der Verfolgung in den Grenzen des Deutschen Reiches von 1937 gelebt und bis zum Stichtag ihren Wohnsitz in der BRD oder Westberlin genommen hatten.

 

Mit diesem im BEG kodifizierten ‚Territorialitätsprinzip‘ mochten sich die Organisationen der NS-Verfolgten und Widerstandskämpfer/innen in mehreren westeuropäischen Staaten nicht abfinden. Ihrem Druck war der Abschluss von elf ‚Globalabkommen‘ für die Gruppe der sogenannten Westverfolgten in den Jahren 1959 bis 1964 geschuldet. Die BRD verpflichtete sich zur Zahlung einer ‚Globalsumme‘ von insgesamt 876 Millionen DM, die der Regierung des jeweiligen Vertragspartnerstaates zur Verfügung gestellt wurde und über deren Verteilung diese autonom entscheiden, also auch ehemalige Zwangsarbeiter/innen entschädigen konnte.  a  Während die deutsche Seite immer wieder die Freiwilligkeit der Leistungen betonte, diese als „abschließende Regelung“ betrachtete und die Anerkennung einer Rechtspflicht strikt ablehnte, erklärte die Gegenseite, etwa Griechenland, sie behalte sich vor, „dann eine Regelung weiterer Forderungen aus nationalsozialistischen Gewaltmaßnahmen zu verlangen, wenn es zu einer allgemeinen Prüfung der im Londoner Schuldenabkommen zurückgestellten Forderungen […] kommen sollte“[1].

 

Insgesamt war der Abschluss der ‚Globalabkommen‘ für die deutsche Seite erfolgreich: Es gelang ihr, einen möglichen Stolperstein auf dem Weg zur europäischen Integration aus dem Weg zu räumen, im Falle der westlichen Nachbarstaaten sogar die Regelung offener Grenzfragen in die Verträge einzubeziehen, in Zeiten des Kalten Krieges dem ‚Osten‘ die Einigkeit des ‚Westens‘ zu demonstrieren und – gerade während des Eichmann-Prozesses in Jerusalem (1961) – das Image Deutschlands im Ausland zu verbessern.

 

Während sich im Rahmen der Westintegration eine Einigung mit den NATO- und EG-Partnern als unabdingbar erwies, lehnte die BRD eine Entschädigung der osteuropäischen NS-Opfer lange strikt ab; eine Ausnahme machte die Bundesregierung lediglich für die durch Menschenversuche in den KZ Geschädigten.[2] Die sozial-liberale Koalition gab diese Blockade in den 1970er Jahren im Rahmen ihrer Entspannungspolitik auf. Die ‚Brioni-Formel‘ – benannt nach der Mittelmeerinsel, auf der der jugoslawische Staatspräsident Josip Broz Tito und der westdeutsche Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) im April 1973 zusammentrafen – sah eine Regelung der „noch offenen Fragen aus der Vergangenheit“ durch „eine langfristige Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem und anderen Gebieten“ vor.[3] So erhielten etwa Jugoslawien und Polen zinsgünstige Kredite. Im Fall Polens kam noch die pauschale Abgeltung von Rentenansprüchen in Höhe von 1,3 Milliarden DM hinzu, allerdings musste sich die polnische Seite im Gegenzug verpflichten, 120.000 sogenannte ‚Volksdeutsche‘ ausreisen zu lassen. Es war der westdeutschen Regierung dabei ein weiteres Mal gelungen, die Durchsetzung eigener Forderungen und Interessen mit der Frage der Entschädigung zu verknüpfen. Hätte die BRD individuelle Rentenansprüche ehemaliger polnischer Zwangsarbeiter/innen abgelten müssen, hätten diese bei zirka 8 Milliarden DM gelegen.

 

Nach jahrelangen Verhandlungen der Claims Conference konnte 1980 der Hardship-Fonds eingerichtet werden, der Einmalzahlungen an bis dahin nicht berechtigte jüdische Immigranten aus Mittel- und Osteuropa ermöglichte. Ansonsten blieben in den 1980er Jahren parlamentarische Bemühungen der Oppositionsparteien im Bundestag um Entschädigung bisher ausgeschlossener Verfolgtengruppen erfolglos. Der Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland (2+4-Vertrag) zwischen BRD und DDR auf der einen sowie den Alliierten der Anti-Hitler-Koalition (USA, Frankreich, Großbritannien, Sowjetunion) auf der anderen Seite machte im September 1990 der unklaren Rechtslage ein Ende: Nun konnten individuelle Ansprüche gestellt werden. Um Entschädigungsansprüchen der sogenannten Ostverfolgten zuvorzukommen, wurden in Fortführung der ‚neuen Ostpolitik‘ der Ära Brandt zwischen 1991 und 1998 ‚Globalabkommen‘ mit Polen, der Russischen Föderation, der Ukraine, Weißrussland, den baltischen Staaten und Tschechien geschlossen. In Anbetracht der großen Zahl noch lebender NS-Opfer (mehr als zwei Millionen) erhielten diese lediglich Rentenzahlungen in Höhe von 20–40 DM pro Monat.[4]

 

Nach einer Sammelklage des ehemaligen Zwangsarbeiters Hugo Princz und anderer Leidensgenossen gegen die BRD und mehrere deutsche Unternehmen in den USA wurden 1995 und 1998 Vereinbarungen zwischen der US-amerikanischen und der deutschen Regierung geschlossen: Diese sahen eine Entschädigung der Kläger in Höhe von 3,1 Millionen DM vor, jedoch wurde das Geld nicht an die Opfer gezahlt, sondern an eine Mittlerorganisation, um den Eindruck zu vermeiden, die Bundesregierung sehe sich zu einer solchen Entschädigung verpflichtet und erkenne ihre Verantwortung dafür an. Mit anderen Worten: Die BRD setzte ihren in den 1950er Jahren eingeschlagenen Kurs konsequent fort und blieb bei ihrer Ablehnung einer umfassenden Entschädigung für NS-Zwangsarbeit. Eine Änderung trat ein, als Ende der 1990er Jahre ehemalige NS-Zwangsarbeiter/innen vor US-amerikanischen Gerichten in großem Umfang Sammelklagen gegen deutsche Konzerne einreichten, die schließlich zur Gründung der „Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft“ führten.

(GK/PEH)



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[pdf] Peer Heinelt_Die Entschädigung der NS-Zwangsarbeiterinnen und -Zwangsarbeiter

 

Literatur

Hennies, Jörg Hagen: Entschädigung für NS-Zwangsarbeit vor und unter der Geltung des Stiftungsgesetzes vom 2.8.2000. Baden-Baden: Nomos 2006.

Herbert, Ulrich: Nicht entschädigungsfähig? Die Wiedergutmachungsansprüche der Ausländer. In: Ludolf Herbst / Constantin Goschler (Hg.): Wiedergutmachung in der Bundesrepublik Deutschland. München: Oldenbourg 1989, S. 273–302.

Hockerts, Hans Günter: Die Entschädigung für NS-Verfolgte in West- und Osteuropa. Eine einführende Skizze. In: Hans Günter Hockerts / Claudia Moisel / Tobias Winstel (Hg.): Grenzen der Wiedergutmachung. Die Entschädigung für NS-Verfolgte in West- und Osteuropa 1945–2000. Göttingen: Wallstein 2006, S. 7–58.

Rumpf, Helmut: Völkerrechtliche und außenpolitische Aspekte der Wiedergutmachung. In: Ernst Féaux de la Croix / Helmut Rumpf: Der Werdegang des Entschädigungsrechts unter national- und völkerrechtlichem und politologischem Aspekt (= Die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts durch die Bundesrepublik Deutschland. Hg. v. Bundesminister der Finanzen in Zusammenarbeit mit Walter Schwarz, Bd.3). München: Beck 1985, S. 311–346.

Surmann, Rolf: Trugbild. Die deutsche Entschädigungsverweigerung gegenüber den NS-Opfern. In: Ulrike Winkler (Hg.): Stiften gehen. NS-Zwangsarbeit und Entschädigungsdebatte. Köln: PapyRossa 2000, S. 186–204.

[1] Rolf Surmann: Trugbild. Die deutsche Entschädigungsverweigerung gegenüber den NS-Opfern. In: Ulrike Winkler (Hg.): Stiften gehen. NS-Zwangsarbeit und Entschädigungsdebatte. Köln: PapyRossa 2000, S. 186–204, hier S. 196.

[2] Entsprechende Abkommen schloss die BRD 1961 mit Jugoslawien, 1969 mit der ČSSR, 1971 mit Ungarn und 1972 mit Polen.

[3] Hans Günter Hockerts: Die Entschädigung für NS-Verfolgte in West- und Osteuropa. Eine einführende Skizze. In: Hans Günter Hockerts / Claudia Moisel / Tobias Winstel (Hg.): Grenzen der Wiedergutmachung. Die Entschädigung für NS-Verfolgte in West- und Osteuropa 1945–2000. Göttingen: Wallstein 2006, S. 7–58, hier S. 42.

[4] Vgl. Surmann: Trugbild, S. 199, sowie Hockerts: Entschädigung für NS-Verfolgte, S. 51ff.