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Inszenierungen und Fernsehspiel von Die Ermittlung von Peter Weiss (1965/66)

Peter Weiss‘ Theatertext Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen wurde am 19. Oktober 1965 in einer Ring-Uraufführung zugleich an 15 west- und ostdeutschen Bühnen[1] inszeniert bzw. gelesen. Am selben Tag zeigte Peter Brook seine Inszenierung in London, am 24. Oktober folgte die Aufführung des Staatstheaters Stuttgart. Schon vor der Uraufführung hatte eine lebhafte Debatte über das Stück begonnen. Der undramatische Text, der ohne eine Psychologisierung der Sprechrollen funktioniert, wurde zumeist entsprechend einfach und auf das Gesprochene konzentriert in Szene gesetzt. Auffällig sind an den ersten Inszenierungen vor allem die räumlichen Anordnungen von Angeklagten, Gericht und Zeugen auf der Bühne und damit ihr Verhältnis zum Publikum. So ließ Erwin Piscator in seiner Inszenierung an der Freien Volksbühne Westberlin die Zeugen aus einer Vertiefung zwischen Bühne und Zuschauerraum auftreten, als sprächen sie in Vertretung des Publikums gegen die in großer Distanz diesem gegenübersitzenden Angeklagten. Abweichend von der Stellvertreterrolle der Zeugen in Weiss‘ Text wurden diese bei Piscator sehr emotional und individuell gespielt, was zu einem politisch-appellativen Gesamtarrangement beitrug, das als „feierlich, theatralisch und polemisch“[2] beschrieben wurde. Während Piscator so eine Distanz zwischen den Angeklagten – und damit den verhandelten Verbrechen in Auschwitz – und dem Publikum behauptete, traten in der Kölner Inszenierung die Angeklagten aus dem Publikum auf, das so als eine Gemeinschaft, welche die Verbrecher beherbergt, gekennzeichnet und in Frage gestellt wurde. Peter Palitzsch ließ in seiner Stuttgarter Inszenierung Fotos der realen Angeklagten des 1. Frankfurter Auschwitz-Prozesses im Bühnenraum aufhängen und die Rollen der Zeugen und der Angeklagten abwechselnd von denselben Schauspielern sprechen, was in der Kritik als eine „klare, erschreckend endlose und namenlose Folge von ‚Stimmen‘“ beschrieben wurde, die auf eine „Maschinerie, welche die Opfer und die Henker miteinander gemein macht und austauschbar“, verwiese.[3] Sowohl der Regisseur Palitzsch als auch sein begeisterter Rezensent Ernst Wendt blenden in ihrer Wahrnehmung von Auschwitz die gesellschaftlichen Verhältnisse, namentlich den NS-Antisemitismus, und damit den Charakter der Judenvernichtung, in der Opfer und Täter in keiner Weise austauschbar waren, vollkommen aus. Damit verstärken sie eine Tendenz, von Auschwitz zu sprechen, die bereits im Theatertext Die Ermittlung angelegt ist, und die einer bestimmenden Sicht auf Auschwitz in der bundesdeutschen Öffentlichkeit der 1960er Jahre entsprach. Palitzsch hob in seiner Inszenierung zudem die räumliche Abfolge der Gesänge hervor, indem zu Beginn eines jeden Gesangs ein Lageplan heruntergelassen wurde, auf dem dann der Ort des Gesangs innerhalb des Lagerkomplexes Auschwitz eingetragen wurde.

 

Radiohörspiele der Ermittlung wurden am 26. Oktober 1965 im Deutschlandsender der DDR und am 27. Oktober im HR gesendet und erhöhten die öffentliche Wirkung des Stückes. Im folgenden Jahr produzierte der NDR ein Fernsehspiel der Ermittlung, inszeniert von Peter Schulze-Rohr, der auch für die HR-Hörspielfassung verantwortlich gewesen war. Schulze-Rohr führte in seiner Fernsehinszenierung immer wieder an den Ort des Geschehens, doch nun durch die illustrierende Einblendung von Filmaufnahmen – vom Bahnhof, Baracken, Luftaufnahmen des Lagers etc. – aus einem verschneiten Auschwitz und Birkenau. Die Fernsehinszenierung wirkt äußerst bühnenhaft. In einem Dreieck sind Angeklagte, Richter und Zeugen zueinander angeordnet, während letztere häufig für ihre Aussagen in den leeren Raum vor dem Richtertisch treten. Die räumliche Anordnung behauptet eine klare Unterschiedenheit von Zeugen und Angeklagten. Emotionalität äußert sich hier vor allem in der gespielten Empörung der Angeklagten über das ihnen Vorgeworfene, ansonsten ist das 155 Minuten lange Fernsehspiel ganz auf die Aussagen und die Wirkung des Gesprochenen, darunter auch die Äußerungen zu I.G. Farben, konzentriert.

 

Am 20. November 1966 wurde in der DDR eine Fernsehaufzeichnung der Lesung im Plenarsaal der Volkskammer ausgestrahlt, damit war die Rezeption der Ermittlung in Ostdeutschland abgeschlossen. Während weitere Inszenierungen auf internationalen Bühnen folgten, u.a. von Ingmar Berman in Stockholm, setzte auch in Westdeutschland eine zwölf Jahre dauernde Pause ein. Seit 1979 wird Die Ermittlung immer wieder einmal in Deutschland zur Aufführung gebracht.

(MN)



Literatur

Atze, Marcel: „Die Angeklagten lachen“. Peter Weiss und sein Theaterstück „Die Ermittlung“. In: Auschwitz-Prozess  4 Ks 2/63  Frankfurt am Main [Ausstellungskatalog]. Hg. v. Irmtrud Wojak im Auftrag des Fritz Bauer Instituts. Köln: Snoeck 2004, S. 782–807.

Lindner, Burkhardt: Im Inferno. „Die Ermittlung“ von Peter Weiss. Auschwitz, der Historikerstreit und „Die Ermittlung“. Frankfurt am Main: Frankfurter Bund für Volksbildung 1988.

Lindner, Burkhardt: Protokoll, Memoria, Schattensprache. „Die Ermittlung“ von Peter Weiss ist kein Dokumentartheater. In: Stephan Braese (Hg.): Rechenschaften. Juristischer und literarischer Diskurs in der Auseinandersetzung mit den NS-Massenverbrechen. Göttingen: Wallstein 2004, S. 131–145.

Rühle, Günther: Versuche über eine geschlossene Gesellschaft. Das dokumentarische Drama und die deutsche Gesellschaft. In: Theater heute, 10/1966, S. 8–12.

Weiss, Peter: Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen [1965]. Mit einer DVD des Fernsehspiels (NDR 1966, R: Peter Schulze-Rohr). Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008.

Wendt, Ernst: Was wird ermittelt? In: Theater heute, 12/1965, S. 14–18.

 

Fernsehspiel

Die Ermittlung. Theaterstück nach dem Schauspiel von Peter Weiss. Regie: Peter Schulze-Rohr. Norddeutscher Rundfunk 1966, 155 Min.

[1] BRD: Freie Volksbühne Berlin, Essen, Köln, München; DDR: Inszenierungen in Rostock und Potsdam, szenische Lesungen in Altenburg, Cottbus, Dresden, Erfurt, Gera, Halle, Leipzig, Neustrelitz und im Plenarsaal der Volkskammer der DDR in Ostberlin.

[2] Ernst Wendt: Was wird ermittelt? In: Theater heute, 12/1965, S. 14–18, hier S. 14.

[3] Wendt: Was wird ermittelt?, S. 16.