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Karl Brozik (1926–2004)

Dr. Karl Brozik überreicht im Juni 2001 den ersten Scheck im Rahmen der Entschädigungszahlungen an ehemalige Sklaven- und Zwangsarbeiter'Foto: Claims Conference, Frankfurt
Dr. Karl Brozik überreicht im Juni 2001 den ersten Scheck im Rahmen der Entschädigungszahlungen an ehemalige Sklaven- und Zwangsarbeiter
Foto: Claims Conference, Frankfurt
Dr. Karl Brozik'Claims Conference, Frankfurt
Dr. Karl Brozik
Claims Conference, Frankfurt

Norbert Wollheim sel. A. ist ein Vorbild in seinem Engagement für Menschlichkeit und Gerechtigkeit, sein Tod […] ein Verlust für uns alle.“[1]

 

Karl Brozik wurde am 4. Februar 1926 als jüngster von zwei Söhnen tschechisch-deutsch-jüdischer Eltern in Teplice in der Tschechoslowakei geboren. Nach der Besetzung durch die deutschen Truppen musste die Familie ihre Heimat verlassen und nach Prag übersiedeln. Während sie noch auf ein amerikanisches Visum warteten, wurde die Familie am 22. Oktober 1941 ins Ghetto Lodz in Polen verschleppt, wo Vater, Mutter und Bruder – Max, Mina und Hans Abeles – an Erschöpfung und Hunger starben.

 

Im Sommer 1944 wurde Karl Brozik ins KZ Auschwitz-Birkenau deportiert. Nur durch den Einsatz zu schwerster Zwangsarbeit entging er dem Tod im Gas. Die kaum noch steigerbare Form des Grauens erfuhr er, als die Auschwitz-Häftlinge im Januar 1945 von der SS auf den Todesmarsch in das Konzentrationslager Mauthausen getrieben wurden. In dessen Außenlager Gusen musste Karl Brozik in unterirdischen Bunkern in der Flugzeugproduktion Zwangsarbeit leisten. Am 5. Mai 1945 wurde er von der U.S. Army befreit, auf 42 Kilogramm abgemagert und krank.

 

Bei seiner Rückkunft nach Prag erfuhr Karl Brozik, dass seine gesamte 26-köpfige Familie von den Nazis ermordet worden war. Er stand vor dem Nichts und musste sein Leben gänzlich neu aufbauen. Als Werkstudent holte er das Abitur nach, studierte Jura und schloss das Studium mit der Promotion ab. Er heiratete 1949 Hilda Katz – auch sie eine Auschwitz-Überlebende –, wurde Vater zweier Söhne und machte Karriere im tschechoslowakischen Außenhandelsministerium.

 

Der verheißungsvolle berufliche Neubeginn wurde jedoch jäh unterbrochen, als die Prager Regierung die Order gab, alle Juden aus dem Staatsdienst zu entfernen: Karl Brozik wurde gezwungen, den öffentlichen Dienst zu verlassen und übernahm die Leitung einer kunsthandwerklichen Kooperative. Als Anhänger des Prager Frühlings 1968 sah er nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts keine andere Perspektive, als aus seiner Heimat zu fliehen. Über Ungarn emigrierte er im selben Jahr mit seiner Familie nach Frankfurt am Main, wo er bald für die United Restitution Organisation arbeitete und ab 1987 als Repräsentant der Conference on Jewish Material Claims Against Germany (Claims Conference) in Deutschland tätig war.

 

Als Geschäftsführer der Compensation Treuhand führte Karl Brozik auf der Grundlage des 1986 getroffenen Abkommens der Claims Conference mit der ehemals zum Flick-Konzern und damals der Deutschen Bank gehörenden Firma Dynamit Nobel die Entschädigungszahlungen an ehemalige Sklavenarbeiter von Dynamit Nobel durch.

 

Außerdem verhandelte er vornehmlich mit dem Bundesministerium der Finanzen über Entschädigungsfragen. Im Zentrum standen nach Ablauf der Antragsfristen des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) im Jahr 1969 die Bemühungen, jene NS-Verfolgten in die bundesdeutsche Entschädigung von NS-Unrecht einzubeziehen, die aufgrund ihres Wohnsitzes in Mittel- und Osteuropa von Leistungen nach dem BEG ausgeschlossen waren. Mit zunehmender Durchlässigkeit des „Eisernen Vorhangs“ war das in den 1980er und 1990er Jahren ein vordringliches Anliegen der Claims Conference. An der Durchführung des Hardship Fund wie an der Einrichtung des Artikel 2-Fonds war Karl Brozik direkt und verantwortlich beteiligt.

 

Nicht zuletzt seiner Initiative und seinem Mitwirken ist die Errichtung des Mittel- und Osteuropa-Fonds geschuldet, der erstmals laufende Beihilfen an jüdische Schwerstverfolgte mit Wohnsitz in Mittel- und Osteuropa ermöglichte. Seinem Einsatz ist es mit zu verdanken, dass bei der Errichtung der Bundesstiftung zur Entschädigung ehemaliger Sklaven- und Zwangsarbeiter/innen im Jahr 2000 nicht wie zunächst geplant unterschiedliche Bemessungsgrundlagen für die westliche Welt und Osteuropa angesetzt wurden.

 

Karl Brozik verstarb am 18. August 2004 im Alter von 78 Jahren während eines Kurzurlaubs in seiner tschechischen Heimat, nur wenige Wochen nach Freigabe der zweiten Rate der Zwangsarbeiterentschädigung durch die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“. Dr. Karl Brozik war Sprecher des Rats der Überlebenden des Fritz Bauer Instituts, Mitglied des Beirats des Hessischen Härtefonds, Vorstandsmitglied der Theresienstädter Initiative und Träger der Wilhelm-Leuschner-Medaille (Wiesbaden 1997), der Medaille für Widerstand gegen den Faschismus (Prag 1999), der Ehrenplakette der Stadt Frankfurt am Main (Frankfurt 2002) sowie des Verdienstordens der Tschechischen Republik (Berlin 2003).

 

Mit großer Eindringlichkeit hat Karl Brozik Schülerinnen und Schülern als Zeitzeuge über die Gräuel des Holocaust berichtet.

(EA)



Material

[pdf] Brozik_Nachruf auf Wollheim_1999

 

Literatur

Brozik, Karl: Nachruf auf Norbert Wollheim. In: Newsletter zur Geschichte und Wirkung des Holocaust. Informationen des Fritz Bauer Instituts 16 (1999), S. 22.

[1] Karl Brozik: Nachruf auf Norbert Wollheim. In: Newsletter zur Geschichte und Wirkung des Holocaust. Informationen des Fritz Bauer Instituts 16 (1999), S. 22.