Glossar

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Die Klage im Prozess „Wollheim gegen I.G. Farben“

 a  „Die Beklagte hatte vor allen Dingen auch Kenntnis davon, dass die Häftlinge sich buchstäblich zu Tode arbeiteten. Denn es war allgemein bekannt, dass Häftlinge, die zu schwach zur Leistung der schweren Arbeiten waren, gemeldet und nach ärztlicher Untersuchung von der SS in das Sonderlager Birkenau zur Vergasung gebracht wurden.“

(Henry Ormond, Klage, 3.11.1951. HHStAW, Abt. 460, Nr. 1424 (Wollheim gegen IG Farben), Bd. I, Bl. 1–6, hier Bl. 4–5.)

Im August 1950 rief die Tripartite IG Farben Control Group (TRIFCOG) die Gläubiger der ehemaligen I.G. Farben und ihrer Tochtergesellschaften auf, ihre offenen Forderungen zu melden. Norbert Wollheim, ehemaliger Häftling des KZ Buna/Monowitz, las die Aufrufe und fragte sich: „Mein Gott, wenn die Aktionäre berechtigt sind, Ansprüche zu stellen, was ist mit uns?“[1]

 

Wollheim hatte bereits im Nürnberger Prozess gegen I.G. Farben als Zeuge ausgesagt und sah nun die Möglichkeit, neben dem strafrechtlichen Aspekt zivilrechtliche Ansprüche der ehemaligen KZ-Häftlinge gegen den früheren ‚Arbeitgeber‘, d.h. I.G. Farben, geltend machen zu können. Er suchte den Rat des ihm bekannten Anwalts Henry Ormond in Frankfurt am Main, um die Rechtsgrundlagen für diese Ansprüche zu klären und die Art und Weise zu diskutieren, wie Ansprüche durchgesetzt werden könnten.

 

Auf Grund der von den Alliierten beschlossenen Entflechtung des I.G. Farben-Konzerns waren etliche Schwierigkeiten im Vorfeld zu lösen. So bedurfte eine Klage gegen die I.G. Farben in Liquidation (i.L.) einer Genehmigung durch die zuständige Aufsichtsbehörde, die TRIFCOG. Auch lagen die notwendigen Unterlagen nun auf die Archive der Einzelunternehmen verteilt – die Fakten zur Darstellung des Sachverhaltes mussten zusammengesucht werden. Ormond klagte am 3. November 1951 vor dem Landgericht Frankfurt am Main gegen die I.G. Farben i.L.: Er forderte, „dass die Beklagte [I.G. Farben] dem Kläger denjenigen Schaden zu ersetzen hat, der ihm [Norbert Wollheim] durch die missbräuchliche Verwendung seiner Arbeitskraft durch die Beklagte in der Zeit vom 15. März 1943 bis zum 18. Januar 1945 entstanden ist.“[2] Der Streitwert wurde von Ormond nach Rücksprache mit Wollheim auf 10.000 DM angesetzt, ohne einen genauen Betrag für das Schmerzensgeld festzulegen. Bei der Bezifferung der Klage spielte neben den Gerichtskosten die Möglichkeit eines Revisionsverfahrens eine Rolle; für die Revisionsfähigkeit musste eine Klage einen Streitwert von mehr als 6.000 DM ausweisen.

 

Die Klage begründete Henry Ormond zivilrechtlich mit ungerechtfertigter Bereicherung und unerlaubten Handlungen der I.G. Farben. Er argumentierte hierbei zum einen, dass sich die I.G. Farben – ohne rechtliche Grundlage – an der Arbeitsleistung Wollheims bereichert habe (§ 812 BGB). Die I.G. Farben i.L. hafte, so Ormond, auch in der verschärften Form, da sie in Kenntnis der Gesetzesverstöße und wider die guten Sitten die KZ-Häftlinge ausgebeutet habe (§ 819 BGB).  a 

 

Zum anderen machte Ormond in der Klageschrift Schadensersatz geltend (§ 823 BGB), da die I.G. Farben vorsätzlich Norbert Wollheims Gesundheit, seine „Freiheit, das Recht auf seine Arbeitskraft und seine Menschenwürde verletzt [hat] und ihm deshalb zum Ersatz des daraus entstandenen Schadens verpflichtet ist.“[3] Ebenso hätten die I.G. Farben durch das Zusammenwirken mit der SS in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Art und Weise agiert (§ 826 BGB).

 

Die ersten Schriftsätze an das Landgericht Frankfurt am Main, Ormonds Klageschrift und die Replik der I.G. Farben-Anwälte, waren sehr kurz gefasst und beschränkten sich auf das Nötigste. I.G. Farben i.L. beauftragte als Rechtsvertreter in diesem Verfahren den Frankfurter Anwalt Dr. Jakob Flesch. Bis zum März 1952 konnte Henry Ormond Zeugen benennen und zusätzliches Beweismaterial vorlegen. In diesem Zusammenhang reiste er unter anderem zum Jahreswechsel 1951/52 auf eigene Kosten nach Paris, um im Centre de Documentation Juive Contemporaine die Unterlagen zum Nürnberger Prozess gegen I.G. Farben einzusehen. Henry Ormond engagierte sich weit über das übliche Maß für diese Klage, denn weder ihm noch Norbert Wollheim ging es um einen Einzelfall, sondern um einen Musterprozess, der die Ansprüche für alle ehemaligen Häftlinge der I.G. Farben in Auschwitz klären sollte.

(PH)



Material

[pdf] Anklageschrift Wollheim-Prozess_3.11.1951 (Archiv des Fritz Bauer Instituts)

 

Quelle

Henry Ormond, Klage, 3.11.1951. HHStAW, Abt. 460, Nr. 1424 (Wollheim gegen IG Farben), Bd. I, Bl. 1–6.


Literatur

Wollheim, Norbert: Wir haben Stellung bezogen. In: Richard Chaim Schneider: Wir sind Da! Die Geschichte der Juden in Deutschland von 1945 bis heute. Berlin: Ullstein 2000, S. 108–120.

[1] Norbert Wollheim: Wir haben Stellung bezogen. In: Richard Chaim Schneider: Wir sind Da! Die Geschichte der Juden in Deutschland von 1945 bis heute. Berlin: Ullstein 2000, S. 108–120, hier S. 118.

[2] Henry Ormond, Klage, 3.11.1951. HHStAW, Abt. 460, Nr. 1424 (Wollheim gegen IG Farben), Bd. I, Bl. 1–6, hier Bl. 1.

[3] Ormond, Klage,  Bl. 6.