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Beteiligung am Wiederaufbau eines jüdischen Gemeindelebens in Deutschland

Norbert Wollheim (rechts) auf dem 2. Kongress des Zentralkomitees der befreiten Juden in der Britischen Zone, Bad Harzburg, Juli 1947'© United States Holocaust Memorial Museum (Wollheim-Nachlass)
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Norbert Wollheim (rechts) auf dem 2. Kongress des Zentralkomitees der befreiten Juden in der Britischen Zone, Bad Harzburg, Juli 1947
© United States Holocaust Memorial Museum (Wollheim-Nachlass)

 a  „In meiner Antwort beschraenkte ich mich auf die Erklaerung, dass ich keinerlei Recht und Autoritaet mir anmassen duerfe, fuer die Juden Israels zu sprechen, auch nicht fuer die juedische Gemeinschaft ausserhalb Deutschlands. Aus meiner persoenlichen Kenntnis der Judenheit in Israel, USA und Europa koenne ich den verantwortlichen deutschen Politikern und neuerdings  Staatsmaennern nicht den Vorwurf ersparen, dass von ihrer Seite aus entweder keinerlei oder aber nur ein voellig unbedeutender Beitrag dafuer gleistet worden ist, das Verhaeltnis von Deutschen und Juden auf eine neue Grundlage zu stellen. Weder hat die heutige deutsche Staatsfuehrung in eindeutiger und unmissverstaendlicher Weise dem deutschen Volk das Ausmass des Verbrechens klar zu machen versucht, das an den Juden Mitteleuropas durch Hitlers Helfershelfer begangen wurde, noch habe sie mit irgendeiner sichtbaren und wirkungsvollen Geste einen Beitrag dafuer geleistet, dem juedischen Volk die Ehre wiederherzustellen, die uns zwar innerlich nicht hat geraubt werden koennen, die aber durch Propaganda und Hetze taeglich geschaendet worden ist. Der neu aufkommende Antisemitismus in Deutschland habe das nie ganz beseitigte Misstrauen der juedischen Menschen gegenueber der neuen deutschen Entwicklung bestaerkt, und mit tiefster Sorge verfolgen die Juden in- und ausserhalb Deutschlands eine neonationalistische Renaissance, die, wird ihr nicht entschlossen entgegengetreten, zur erneuten Gefahr fuer die kleine Gruppe der juedischen Menschen hier, aber nicht nur hier, fuehren muss.“

(Gespräch zwischen Bundespräsident Theodor Heuss und Norbert Wollheim am 19. Januar 1950 in Kiel – Niederschrift. (Zionistisches Zentralarchiv, Jerusalem, Nachlass Shalom Adler-Rudel, Akte Nr. A140/58) In: Yeshayahu A. Jelinek (Hg.): Zwischen Moral und Realpolitik. Deutsch-israelische Beziehungen 1945–65. Eine Dokumentensammlung. Gerlingen: Bleicher 1997, S. 135–138, hier S. 136–137.)

Das Zentralkomitee der befreiten Juden in der britischen Zone, dessen stellvertretender Vorsitzender Norbert Wollheim war, hatte den Aufenthalt von Jüdinnen und Juden in Deutschland unmittelbar nach dem Holocaust immer nur als einen vorübergehenden Zustand angesehen, in dessen Überwindung seine Arbeit vor allem bestand. Damit lag es im Einklang mit der Einschätzung jüdischen Lebens in Deutschland durch zahlreiche jüdische Organisationen nach dem Zweiten Weltkrieg, wie sie auch die Versammlung des World Jewish Congress 1948 in Montreux prägte, der „the determination of the Jewish people never again to settle on the bloodstained soil of Germany“[1] per Resolution beschloss. Dort äußerte sich auch Norbert Wollheim in dieser Richtung, doch war er im Laufe der folgenden Jahre zugleich bereit, zu akzeptieren, dass es Jüdinnen und Juden gab, die für sich entschieden, in Deutschland zu bleiben. Immer mehr zeichnete sich ab, dass einige der Displaced Persons (DPs) und Remigranten ein dauerhaftes jüdisches Leben in Deutschland wiederaufbauen wollten, auch wenn sie dafür häufig angefeindet wurden. Wollheim lehnte es ab, dass „der Hass, der den Deutschen galt, auf die Juden in Deutschland ausgedehnt oder auf sie verschoben“[2] würde, und fragte: „Warum muss die ‚historische Antwort‘ an Deutschland auf dem Rücken der ohnehin genug geschlagenen jüdischen Menschen in Deutschland ausgetragen werden?“[3]

 

Norbert Wollheim beteiligte sich daran, dem begonnenen Wiederaufbau jüdischen Gemeindelebens in der BRD dauerhafte Strukturen zu geben. Am 19. Juli 1950 wurde der Zentralrat der Juden in Deutschland gegründet; das vierköpfige Direktorium bildeten Philipp Auerbach, Heinz Galinski, Pessah Piekatsch und Norbert Wollheim.

 

Bereits am 19. Januar und am 20. März 1950 war Wollheim mit Bundespräsident Theodor Heuss zusammengetroffen, der nach inoffiziellen Wegen zu einer Kontaktaufnahme nach und Annäherung an Israel suchte. Wollheim berichtete über diese Treffen an Shalom Adler-Rudel, Direktor der Abteilung für Internationale Beziehungen der Jewish Agency, mit der ausdrücklichen Bitte, seine Berichte „an die Stelle nach Israel zu übersenden, die Sie für die Behandlung dieser Fragen für zuständig halten.“[4] Er habe gegenüber Heuss ausdrücklich auf die Probleme der „Renazifizierung Deutschlands“[5] hingewiesen, die personellen Kontinuitäten wie im Fall des Staatssekretärs im Bundeskanzleramt Hans Globke, „das Wiederdurchbrechen offener und versteckter antisemitischer Propaganda“[6] und „die entmutigenden Urteile verschiedener Gerichte in politischen Prozessen resp. bei Verfahren wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit“[7] erwähnt. Deutlich brachte Norbert Wollheim seine Enttäuschung über die Entwicklung im Nachkriegsdeutschland zum Ausdruck, die seinen persönlichen Entschluss bestärkte, das Land zu verlassen, sobald die notwendige Hilfe für die Displaced Persons abgeschlossen sei.  a 

 

Im August 1951 wurde schließlich das Zentralkomitee der befreiten Juden in der Britischen Zone aufgelöst, da seine Arbeit abgeschlossen war. Im September wanderte Norbert Wollheim mit seiner Frau Friedel, die er in Belsen kennengelernt hatte, und ihren beiden Kindern, die er nicht in Deutschland aufwachsen lassen wollte, in die USA aus.

(MN)



Quellen

Gespräch zwischen Bundespräsident Theodor Heuss und Norbert Wollheim am 19. Januar 1950 in Kiel – Niederschrift. (Zionistisches Zentralarchiv, Jerusalem, Nachlass Shalom Adler-Rudel, Akte Nr. A140/58) In: Yeshayahu A. Jelinek (Hg.): Zwischen Moral und Realpolitik. Deutsch-israelische Beziehungen 1945–65. Eine Dokumentensammlung. Gerlingen: Bleicher 1997, S. 135–138.

Brief von Norbert Wollheim an Shalom Adler-Rudel mit Bericht über das Treffen mit Bundespräsident Theodor Heuss [4.4.1950]. (Zionistisches Zentralarchiv, Jerusalem, Nachlass Shalom Adler-Rudel, Akte Nr. A140/58) In: Yeshayahu A. Jelinek (Hg.): Zwischen Moral und Realpolitik. Deutsch-israelische Beziehungen 1945–65. Eine Dokumentensammlung. Gerlingen: Bleicher 1997, S. 142–147.

Norbert Wollheim, Interview mit Nikolaus Creutzfeldt [Eng.], New York 1986–88 (Heinlyn Productions; produziert von Leslie C. Wolf). Archiv des Fritz Bauer Instituts, Transkript.

Norbert Wollheim, First Interview [Eng.], 10.5.1991. United States Holocaust Memorial Museum, Transkript.

 

Literatur

Geis, Jael: Übrig sein – Leben "danach". Juden deutscher Herkunft in der britischen und amerikanischen Zone Deutschlands 1945–1949. Berlin: Philo 1999.

Geller, Jay Howard: Jews in Post-Holocaust Germany, 1945–1953. Cambridge/New York: Cambridge UP 2005.

[1] World Jewish Congress: „Germany“. In: Resolutions Adopted by the Second Plenary Assembly of the World Jewish Congress, Montreaux, Switzerland, June 27th—July 6th, 1948. London: Odhams [1948], S. 7, zit. n. Jay Howard Geller: Jews in Post-Holocaust Germany, 1945–1953. Cambridge/New York: Cambridge UP 2005, S. 62.

[2] Jael Geis: Übrig sein – Leben "danach". Juden deutscher Herkunft in der britischen und amerikanischen Zone Deutschlands 1945–1949. Berlin: Philo 1999, S. 433.

[3] N. Wollheim an H. Tramer / Irgun Olej Merkas Europa vom 29. Oktober 1950, zit. n. Geis: Übrig sein, S. 433.

[4] Brief von Norbert Wollheim an Shalom Adler-Rudel mit Bericht über das Treffen mit Bundespräsident Theodor Heuss [4.4.1950]. (Zionistisches Zentralarchiv, Jerusalem, Nachlass Shalom Adler-Rudel, Akte Nr. A140/58) In: Yeshayahu A. Jelinek (Hg.): Zwischen Moral und Realpolitik. Deutsch-israelische Beziehungen 1945–65. Eine Dokumentensammlung. Gerlingen: Bleicher 1997, S. 142–147, hier S. 142.

[5] Ebd., S. 147.

[6] Ebd., S. 146.

[7] Ebd., S. 146.