Glossar

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Zwangsarbeit von Juden und Jüdinnen im NS

Mit Adolf Hitlers Ernennung zum Reichskanzler und der Übernahme der Macht durch die Nationalsozialisten begann im Deutschen Reich die offene, gesetzliche Verfolgung von Jüdinnen und Juden, im Sinne der nationalsozialistischen Weltanschauung und Rassenideologie. Dies geschah in mehreren Stufen: Mit dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 wurden Beamte jüdischer Abstammung entlassen, in den folgenden Monaten wurden alle Personen, die nach nationalsozialistischer Definition als jüdisch galten, aus Staats-, Verwaltungs- und Richterdiensten entlassen, kurze Zeit später auch aus der privaten Wirtschaft. In einem weiteren Schritt, mit den sogenannten Nürnberger Gesetzen verloren Jüdinnen und Juden 1935 nicht nur Zugang zu den letzten ihnen offen stehenden öffentlichen Ämtern, sondern auch ihre Bürgerrechte. Jüdische Privatgeschäfte wurden boykottiert und ab Sommer 1938 war Juden die selbständige Berufsausübung gesetzlich verboten. Arbeitslosigkeit und Armut unter der jüdischen Bevölkerung stiegen enorm an. Ziel der politischen Maßnahmen war es, Jüdinnen und Juden „auf vielfältige Weise zu diskriminieren und zu isolieren, um sie aus Deutschland zu vertreiben“[1].

 

Vor diesem Hintergrund ist die Arbeitsverpflichtung deutscher Jüdinnen und Juden zu verstehen: Ab 1936 bereiteten unbezahlte Arbeitsverpflichtungen nunmehr arbeitsloser Juden – wie sie Fürsorgeempfängern in Einzelfällen auferlegt wurden – den nächsten Schritt vor. Mit Verordnung des „Geschlossenen Arbeitseinsatzes“ bestand ab 1938 für jüdische Männer in Deutschland und später auch für diejenigen in den besetzten Gebieten Arbeitszwang. Ab 1939 wurden sie in Deutschland hauptsächlich für Aufbau- und Ausbesserungsarbeiten dienstverpflichtet. Dabei waren sie weitgehend rechtlos, bedingt durch das sogenannte „Beschäftigungsverhältnis eigener Art“, dem sie unterlagen.

 

Zwangsarbeit der aus Deutschland und den besetzten Ländern verschleppten Jüdinnen und Juden wurde von der SS hauptsächlich in Ghettos und Konzentrationslagern organisiert, wo meist schreckliche Zustände herrschten: Enge, Nahrungsmangel, schlimmste hygienische Bedingungen und Brutalität der Aufseher/innen führten zu hoher Sterblichkeit. Aus den Ghettos wurde ein Großteil der Juden und Jüdinnen ab 1941 in Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert. Dort mussten viele unter unmenschlichen Bedingungen im Sinne der „Vernichtung durch Arbeit“ Schwerstarbeit leisten. Hierfür wurden sie von der SS oft an Industriebetriebe ‚verliehen‘, wie zum Beispiel im Fall der I.G. Auschwitz, ehe sie ermordet wurden.

 

Jüdinnen und Juden wurden in der Regel unmittelbar nach dem Einmarsch der Wehrmacht in ein Land verfolgt, registriert, zur Arbeit verpflichtet, verhaftet und in den meisten Fällen deportiert. Ein großer Teil von ihnen starb in den Arbeits- und Vernichtungslagern in Osteuropa.

 

Polen:

Unmittelbar nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Polen im September 1939 begannen die deutschen Behörden mit der Verfolgung der Juden. In den ersten Kriegstagen wurden Juden und Jüdinnen zusammengetrieben und erschossen. Am 21. September erteilte Reinhard Heydrich den ‚Ghettoisierungsbefehl‘, vorgeblich, weil die jüdische Bevölkerung an Anschlägen und Plünderungen beteiligt gewesen sei, wegen der gesundheitlichen Risiken, die von ihnen ausgingen, und des Wohnraummangels. Damit war der Weg für „Vernichtung durch Arbeit“ bereitet: Ab Dezember 1939 verschleppte die deutsche Besatzungsmacht etwa 600.000 Juden und Jüdinnen aus den ‚eingegliederten Gebieten‘ Polens in das Gebiet des Generalgouvernements, wo sie in Ghettos gepfercht wurden und Zwangsarbeit leisten mussten. Die 1,4 Millionen bereits im Generalgouvernement lebenden Juden und Jüdinnen wurden ebenfalls in Ghettos deportiert. Ab Jahresende 1940 wurden mindestens 700.000 Juden und Jüdinnen in Ghettos und Zwangsarbeiterlagern zur Arbeit für deutsche Firmen oder die Wehrmacht gezwungen. In der größten Einzelaktion verschleppte die Wehrmacht im September 1944 nach dem Warschauer Aufstand 67.000 Männer, Frauen und Kinder in deutsche KZ. Die meisten polnischen Jüdinnen und Juden wurden in die Vernichtungslager deportiert und dort ermordet.

 

Niederlande:

Die rund 140.000 in den Niederlanden ansässigen Jüdinnen und Juden wurden nach dem Einmarsch der Wehrmacht am 10. Mai 1940 sukzessive in die Armut gedrängt. Nach weitreichenden ‚Arisierungen‘ ihres Vermögens wurden sie von den deutschen Besatzungsbehörden in abgesonderten Arbeitskolonnen organisiert und in der Industrie oder bei Bauarbeiten als Arbeitskräfte ausgebeutet. Anfang 1941 wurden Ghettos für die jüdische Bevölkerung eingerichtet. Mit Deportationen ins KZ Mauthausen zur Zwangsarbeit im Steinbruch begann im Frühjahr 1941 die Verschleppung von insgesamt 105.000 niederländischen Jüdinnen und Juden. Sie wurden zum größten Teil (60.000) nach Auschwitz gebracht, wo manche zur Zwangsarbeit selektiert wurden. Eine große Zahl (34.300) wurde ins Vernichtungslager Sobibór deportiert. Nur etwa 5.000 überlebten.

 

Belgien:

In Belgien lebten ca. 90.000 Jüdinnen und Juden, von denen 38.000 nach dem Einmarsch der Wehrmacht am 10. Mai 1940 nach Frankreich flohen. Die verbliebenen (mehrheitlich Flüchtlinge aus Nachbarländern) mussten ab Juni 1942 zu Tausenden für die Organisation Todt Zwangsarbeit leisten. Bis zur Befreiung durch die Alliierten im September 1944 hatten die deutschen Behörden aus Belgien 25.000 Jüdinnen und Juden nach Auschwitz deportiert.

 

Frankreich:

In Frankreichlebten Ende 1939 270.000 Jüdinnen und Juden, die meisten (200.000) in Paris. Nach dem Überfall der Wehrmacht gelang es 40.000 von ihnen, ins unbesetzte Frankreich zu fliehen. Die Zurückgebliebenen, zu einem großen Teil staatenlos, traf die nationalsozialistische Verfolgung mit voller Härte: sie erlitten Enteignung, Inhaftierung und Zwangsarbeit (Groupements des Travailleurs Etrangers), ehe sie ab März 1942 nach Auschwitz deportiert wurden. Dort wurden 69.000 Deportierte zum Teil zur Zwangsarbeit, zum Teil in die Gaskammern geschickt, weitere 5.000 wurden nach Majdanek, Sobibór, Kaunas (Kowno) und Bergen-Belsen gebracht. Nur 3.000 Menschen überlebten.

 

Sowjetunion:

In der Sowjetunion wurden nach dem Einmarsch der Deutschen im Juni 1941 mehr als 500.000 Juden und Jüdinnen von extra aufgestellten SS-Sondereinheiten, sogenannten Einsatzgruppen, sofort erschossen. Die Verbliebenen wurden, wie in Polen, in Ghettos verschleppt und zur Zwangsarbeit, zumeist in der Textilproduktion für die Wehrmacht und anderen handwerklichen Tätigkeiten, verpflichtet. Viele Firmen errichteten in den besetzten Gebieten der Sowjetunion in der Nähe von Ghettos Produktionsanlagen, um die billigen Arbeitskräfte zu nutzen. Für Infrastrukturprojekte, etwa die Durchgangsstraße von Lemberg nach Dnjepropetrowsk, mussten Juden Schwerstarbeit leisten. Die Zwangsarbeiterlager, vornehmlich im Baltikum gelegen, unterstanden dem Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt (WVHA). Von den hier inhaftierten 50.000 Häftlingen erlebten nur 2.500 die Befreiung.

 

Ungarn:

1942 waren in Ungarn von dort lebenden 825.000 Jüdinnen und Juden bereits 100.000 dienstverpflichtet; sie leisteten zu gleichen Teilen in Ungarn und im Deutschen Reich Zwangsarbeit. Von ihnen überlebten nur etwa 7.000 den Krieg. Unmittelbar nach dem Einmarsch der Deutschen Wehrmacht im März 1944 zwang auch hier die Besatzungsmacht jüdische Bewohner/innen in Ghettos. Bis Ende Juli 1944 wurden 440.000 ungarische Juden und Jüdinnen nach Auschwitz deportiert. Dort selektierten SS-Ärzte ca. 100.000 von ihnen zur Zwangsarbeit unter schlimmsten Bedingungen, die meisten schickten sie in die Gaskammer. Etwa 116.500 ungarische Juden und Jüdinnen überlebten die Lager.

 

Italien:

Die 50.000 italienischen Jüdinnen und Juden unterlagen ab 1938 antisemitischen Gesetzesänderungen und mussten ab Spätsommer 1942 Zwangsarbeit leisten, etwa in Rom die Uferbefestigung des Tiber reinigen. Als sich Italien im Juli 1943 auf die Seite der Alliierten schlug, begann unter deutscher Anleitung die Deportation der jüdischen Bevölkerung. Insgesamt wurden 7.500 Jüdinnen und Juden nach Auschwitz deportiert, wo die SS sie entweder zur Zwangsarbeit oder unmittelbar zur Ermordung in den Gaskammern selektierte. Weniger als 800 kehrten zurück.

 

Griechenland:

In dem ab 1941 von der deutschen Wehrmacht besetzten Teil Griechenlands lebten über 55.000 Jüdinnen und Juden, davon allein etwa 50.000 in Saloniki. In Saloniki wurde die jüdische Bevölkerung ab Juli 1942 zum „Arbeitseinsatz“ gezwungen; viele wurden in die malariaverseuchten Sümpfe und in Chrombergwerke geschickt, wo sie umkamen. Ab 1943 wurden Juden auch von der Organisation Todt zum Straßenbau eingesetzt. Bis Februar 1943 musste die jüdische Bevölkerung außerdem in Ghettos umziehen. Bis August desselben Jahres wurden 46.000 salonikische Juden nach Auschwitz deportiert, wo sie entweder sofort ermordet oder zur Zwangsarbeit geschickt wurden.

 

Weitere Länder:

Von den 2.000 norwegischen Jüdinnen und Juden wurden Ende 1942 und Anfang 1943 770 in zwei Transporten nach Auschwitz deportiert, wo die Kräftigsten zur Zwangsarbeit selektiert wurden. Nur 26 überlebten und kehrten nach Hause zurück.

Aus Dänemark, wo insgesamt rund 8.000 Jüdinnen und Juden lebten, wurden nur knapp 500 nach Theresienstadt deportiert, wo sie zur Zwangsarbeit verpflichtet wurden. Die meisten Jüdinnen und Juden konnten vor allem durch die Hilfe dänischer Fischer nach Schweden fliehen.

(BG/SP)



Material

[pdf] Arbeitseinsatzbefehl Belgien 

 

Literatur

Benz, Wolfgang (Hg.): Lexikon des Holocaust. München: Beck 2002.

Gruner, Wolf: Der Geschlossene Arbeitseinsatz deutscher Juden. Zur Zwangsarbeit als Element der Verfolgung 1938–1943. Berlin: Metropol 1997.

Herbert, Ulrich: Fremdarbeiter. Politik und Praxis des „Ausländer-Einsatzes“ in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches. Berlin/Bonn: Dietz 1985.

Hilberg, Raul: Die Vernichtung der europäischen Juden. Frankfurt am Main: Fischer 1990.

Spoerer, Mark: Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz. Stuttgart/München: DVA 2001.

[1] Wolf Gruner: Der Geschlossene Arbeitseinsatz deutscher Juden. Zur Zwangsarbeit als Element der Verfolgung 1938–1943. Berlin: Metropol 1997, S. 19.