Glossar

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Anilin. Roman der deutschen Farbenindustrie von Karl Aloys Schenzinger (1937)

Seinen Ausgangspunkt nimmt Karl Aloys Schenzingers Roman Anilin zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf den Indigoplantagen Indiens, wo unter europäischer Aufsicht und in stark orientalistisch geprägtem Duktus Feld(fron)arbeit und Ausbeutungsverhältnisse der einheimischen Bevölkerung beschrieben werden, während die englischen Plantagenbesitzer hohe Gewinne einstreichen. Die Plantagenbesitzer schneiden so unrühmlich ab im Vergleich zur Figur des deutschen Dr. Horn einige Jahre später: dieser treibt den „Eingeborenen“ ihren Aberglauben aus und besorgt ihnen Medikamente. Weiter geht die Erfinderreise zum aufrechten deutschen Chemiker Friedhelm Runge, der sein privates Glück der Chemie opfert und dessen Grundlagenforschung erst Jahre später Anerkennung findet. Der männerbündische Bekanntschaftskreis des zerstreuten Professors illustriert in seiner Beschreibung das Berlin der 1820er Jahre. Beschrieben werden berittene Husaren und festgelegte gesellschaftliche Umgangsformen.

 

Die weiteren Stationen in Anilin bereitet der Chemiker August Hofmann vor, der sich nach innerem Kampf durchringt, sein Jurastudium abzubrechen, um sich ganz der Chemie zu widmen. Er studiert bei Justus von Liebig, ehe er der besseren Forschungsmöglichkeiten wegen nach England geht. Schließlich kehrt er, getrieben von patriotischem Eifer, nach Deutschland zurück und stellt sein Können in den Dienst des Vaterlandes. Der Einsatz dieser begeisterten Männer trägt dazu bei, die an kleinen Beobachtungen als desolat geschilderten Zustände in Deutschland zu bessern, wo sich etwa bisher das deutsche Mädchen prostituieren musste, weil ordentliche Anstellungen nur die „französischen Domestiken“[1] bekommen. Für Frauen bleiben die „klassischen Rollen“ der Gastgeberin, der Mäzenin, des Objekts der Begierde und der Muse reserviert; die beiden letzten sterben im Moment des Erfolgs ihrer Männer.

 

Die Erfolgsgeschichte deutschen Forschungsdrangs führt zur Entdeckung und Herstellung von Anilin, künstlichem Indigo und daneben auch pharmazeutischen Produkten: Erfindungen, an denen die gesamte Menschheit genesen kann. Stets wird die große Leistung der deutschen Chemiker vor dem Hintergrund einer feindlich gesonnen Umgebung – seien es die englische Farbindustrie, die widrigen natürlichen Umstände in Indien oder der Aberglaube – betont. In der Person des Arztes Dr. Horn kulminiert der Sieg der Chemie im letzten Kapitel des Romans mit den Segnungen des Präparats „Atebrin“ gegen Malaria, das Deutschland der Welt zu geben hat und das die Engländer nun auch auf humanitärem Feld besiegt. Gemäß der Logik von persönlichem Opfer im Tausch gegen das Wohl der Menschheit kann der Arzt Aberglauben überwinden und Tausende Menschenleben retten, obwohl er dafür im Dienst einen Arm verliert. Er kehrt nach Deutschland zurück, zurück zur „Heerschau unerbittlich forschender Kämpfer, ein Konzil von Feuerköpfen“[2], wo ihn große Aufgaben erwarten, darunter die Forschung über künstlichen Kautschuk: „Es zeigt sich, dass Buna besser ist als der natürliche Kautschuk. Buna ist widerstandsfähiger. Buna verträgt Hitze. Buna verwittert nicht an der Luft […] Die Auswertung ist nur noch eine Frage der Technik“[3]. Der letzte Satz von Anilin, „Horn öffnete die Tür und trat ein, der neuen Aufgabe entgegen, die auch ihn hier erwartete“[4], strotzt vor Zukunftszuversicht.

 

Der Roman ist stilistisch von einem lebhaften Erzählen mit zahlreichen Frage- und Aussagesätzen, Phrasen und einfachem Satzbau geprägt. Anilin feiert unverhohlen die deutschen Chemiker (die Firmengründungen von BASF und BAYER werden vor allem als Ausdruck gemeinsam gelebten Forschergeists nachvollzogen), die der Menschheit ausschließlich positive Dienste leisteten. Die Geschichte großer Männer und ihrer Mission bleibt ungetrübt von den sozialen und gesundheitlichen Folgen harten Konkurrenzkampfs und oftmals gefährlicher Arbeitsbedingungen, die die Produktion für die Arbeiter/innen (seien sie in Indien oder Ludwigshafen) hatte. Die Bedeutung und Wirkung chemischer Kampfstoffe wird in diesem, auf Begeisterung jugendlicher Leser/innen angelegten Roman nicht erwähnt. Anilin – dessen Autor vor allem für sein Propagandawerk Hitlerjunge Quex bekannt wurde – war mit 3 Millionen Exemplaren das meistverkaufte Buch im Dritten Reich.

(SP)



Literatur

Schenzinger, Karl Aloys: Anilin. Roman der deutschen Farbenindustrie. Berlin: Zeitgeschichte-Verlag 1937.

[1] Karl Aloys Schenzinger: Anilin. Roman der deutschen Farbenindustrie. Berlin: Zeitgeschichte-Verlag 1937, S. 66.

[2] Schenzinger: Anilin, S. 367.

[3] Schenzinger: Anilin, S. 368.

[4] Schenzinger: Anilin, S. 368.