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Fiktionale Literatur zu I.G. Farben und dem KZ Buna/Monowitz

Fiktionalisierungen von Konzentrationslagerbeschreibungen und -erfahrungen stellen hohe Anforderungen an die Funktion der Schaffung und Bewahrung des kulturellen Gedächtnisses, wie sie der Literatur in europäischen Gesellschaften zugestanden wird. Diese Anforderungen sind moralisch geprägt: Die Singularität des Holocaust soll ‚unverfälscht‘ rezipiert werden, die Lesenden sollen sich auf den ‚Wahrheitsgehalt‘ der beschriebenen Ereignisse verlassen können. Während Augenzeugenberichte häufig als unmittelbare Zeugnisse publiziert und rezipiert werden, haben Fragen nach der Legitimität und Möglichkeit von Dichtung und Literatur ‚nach Auschwitz‘ ihre Gründe oftmals in der Angst, Umdeutungen der Geschehnisse könnten den Leugner/innen in die Hände spielen. Zugleich werden gerade literarische Texte zur Vernichtung der europäischen Juden für pädagogische Zwecke eingesetzt und sollen den Lernenden einen emotionalen Zugang zu den vergangenen Ereignissen und ihrer unterstellten moralischen Botschaft ermöglichen. Kritik, die vor allem die historische Genauigkeit des Erzählten in Frage stellt, übersieht häufig nicht nur die meist breite Wirkung solcher Romane, sondern auch die ihnen zugrunde liegenden Entstehungsbedingungen und Intentionen, die meist aufschlussreiche Rückschlüsse über das Schreiben von Literatur und Geschichte in bestimmten historischen und sozialen Zusammenhängen zulassen.

 

Literarische Dokumente der Epoche das Nationalsozialismus oder seines Fortwirkens werden selten zum Gegenstand literarischen Lernens, auch wenn gerade sie für eine kritische Beschäftigung mit Literatur geeignet wäre. Karl-Aloys Schenzingers Romane sind ein beredtes Beispiel für die Kontinuität eines Genres. Der Autor von Hitlerjunge Quex (1932) schrieb 1937 Anilin – Roman der deutschen Farbenindustrie, der eine NS-gerechte Erfolgsgeschichte deutscher Forschung zum Wohle der Menschheit in Form abenteuerlicher spannender Einzelepisoden zeichnet. Nach dem Krieg brachte er mit Bei I.G. Farben (1953) einen weiteren Industrie- und Technikroman heraus, der dem früheren Buch stilistisch und inhaltlich sehr ähnlich ist und so von den Kontinuitäten im Bereich populärer Unterhaltungskultur zeugt.

 

Von einer entgegengesetzten politischen Warte, jedoch mit ähnlichen formalen und stilistischen Mitteln, beschreibt der DDR-Autor Manfred Kühne in seinem 1985 veröffentlichten Roman Buna einen Arbeiter der I.G. Farben, dem seine Versetzung nach I.G. Auschwitz die Augen öffnet für die Verbrechen des Dritten Reiches, die hier als Anklage gegen den Kapitalismus nach und nach entfaltet werden.

 

Im Abenteuerroman hat auch John Castles Roman The Password is Courage von 1954 seine Wurzeln. Die Erzählform der Erlebnisse des britischen Kriegsgefangenen Charles Coward, der im Kriegsgefangenenlager der I.G. Auschwitz interniert wird, schlägt jedoch im Laufe des Romans um, dem zunehmenden Wissen Cowards und der Leser/innen von den Ausmaßen der nationalsozialistischen Verbrechen folgend.

 

Aus der Erzählung eines Überlebenden entwickelte John Hersey seine Erzählung Tattoo Number 107,907, in der die Überlebensgeschichte Alfred Stirners im KZ Buna/Monowitz erzählt wird; hinter der Figur Alfred Stirner verbirgt sich Norbert Wollheim, der Hersey seine Geschichte erzählte. Sie ist in dem Erzählungsband Here to stay (1963) enthalten, neben weiteren, in journalistischen Recherchen gründenden Berichten extremer Lebenssituationen.

(SP)