Glossar

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Bei I.G. Farben von Karl Aloys Schenzinger (1953)

Nach zahlreichen in der NS-Zeit kommerziell sehr erfolgreichen Romanen (u.a. Hitlerjunge Quex, 1932, und Anilin, 1937) veröffentlichte Karl Aloys Schenzinger 1953 den Roman Bei I.G. Farben. Entlang von fünf Produkten spannt sich die Chronologie der Entstehung des Weltkonzerns I.G. Farben in den fünf Kapiteln des Romans: „Kautschuk“, „Stickstoff“, „Buna“, „Kohlehydrierung“ und „Isooktan“.

 

Der Roman beginnt mit der Schilderung der Kautschukgewinnung im 19. Jahrhundert: Aus der rauen Welt der europäischen Gummizapfer, der „Gomeros“, in Südamerika gelangt der Kautschuk nach Europa. Der gewiefte Engländer Henry Wickham führt die Leser/innen hinein in den Amazonas, wo er vorgeblich Kautschuk zapfen, tatsächlich jedoch im Auftrag der englischen Regierung illegal Kautschuksamen in großer Menge exportieren will, um eigenen Plantagenkautschuk produzieren und so „den Markt schlagartig überfallen, überschwemmen, ersäufen!“[1] zu können. Dabei helfen dem erfahrenen Dschungeljäger Henry die geliebte India Squann und ihr Stamm. Während der abenteuerliche Schmuggel gelingt, stirbt die „unverbildete“[2] Frau auf tragische Weise in dem Moment, als ihr Wunsch nach einer Beziehung zu Henry seine Mission zu gefährden droht.

 

Während Wickhams Gummibäume auf Ceylon wachsen, folgt die Romanhandlung den europäischen Chemikern, die – im Dienste der Menschheit – die Agrarchemie entwickeln, denn: „Kautschuk war nötig. Nötiger war Brot“[3], und „alles Leben aber verlangt nach Stickstoff“[4]. Stürmische junge Forscher und erfahrene ältere Wissenschaftler, Fritz Haber und Carl Bosch, arbeiten zusammen, um schließlich in salbungsvoll beschriebener Gemeinschaft – „Zwei Männer sahen sich an. Zwei Männer drückten sich die Hand.“[5] – die Ammoniaksynthese zu finden. Jede Erfindung ist als zwangsläufiger Schritt auf der Leiter des Fortschritts dargestellt, der Prozess des Forschens zugleich als einendes Moment auf verschiedenen Ebenen: Männer verschiedener Herkunft und Disziplinen, Industrie und Einzelkämpfer, von einer Idee beseelt, arbeiten gemeinsam an einer großen Sache. Sie dienen Staat und Nation, notwendigerweise auch – beschrieben im Kapitel „Buna“ – der Kriegswirtschaft. Die Forderungen des Heeres nach Methylkautschuk im Ersten Weltkrieg können die Forscher jedoch nicht befriedigen: „Das Halbfertige […] wurde vorzeitig an die Stelle des Vollwertigen gerückt, und versagte“[6], die synthetische Kautschukherstellung wird abgebrochen.

 

Im folgenden Kapitel „Kohlehydrierung“ steht die Treibstoffforschung im Zentrum: Während die Chemiker aus Ludwigshafen die wichtigsten Anlagen vor der französischen Besetzung des Rheinlandes retten und in Leuna neu anfangen, gelingt Friedrich Bergius die Herstellung von synthetischem Benzin. Die Patente verkauft er an die BASF. Dem künstlichen Kautschuk dagegen ist ein erneutes Scheitern beschieden: Zwar nehmen die Männer der 1925 gegründeten I.G. Farben die Forschungen 1927 wieder auf, mit der Weltwirtschaftskrise verfällt jedoch der Preis für Naturkautschuk, zumal der englische Plantagenkautschuk auf den Markt gelangt. Buna ist damit nicht mehr konkurrenzfähig. Eine neue Chance für die Kohlehydrierung bahnt sich mit den Autarkiebestrebungen der nationalsozialistischen Regierung an, fieberhaft wird zwischen Leuna und Ludwigshafen bei Kriegsausbruch an synthetischem Kautschuk und Treibstoff geforscht, denn: „Sprit war der Sieg.“[7] Die Folgen thematisiert der Roman jedoch nicht.

 

Das letzte Kapitel „Isooktan“ schildert, entgegen dem Muster der vorangegangenen, kein Forscherabenteuer, sondern eine als humanitäre Mission beschriebene Kriegsbegebenheit: Mit Typhus infizierte Soldaten von der Westfront sollen von einem Bakteriologen mit dem Zug in ein Sanatorium gebracht werden. Neben den Widrigkeiten der Zugfahrt mitten im Krieg hat Dr. Horn vor allem mit den überlaufenden Toiletten zu kämpfen und verfällt schließlich auf Kanister, die er von einem Bahnsteig stehlen lässt. Da es sich bei deren ausgeschüttetem Inhalt um Flugbenzin handelte, wird er der Sabotage angeklagt. In der abschließenden Gerichtsverhandlung propagiert sein Verteidiger mit flammenden Worten die Bedeutung medizinischer Entwicklung für die Menschheit im Verhältnis zu einem – geringen – Nachteil für das Militär. Der Text endet mit dem nachdenklichen Räsonieren des Arztes (im Jahr 1944!) über die Erkenntnis, dass jede Erfindung dem Frieden wie dem Krieg dienen könne: „Man mißbraucht die Erfindungen, um Macht zu gewinnen.“[8] Der Schluss des Romans betont die Unschuld der Forschung und Forschenden an den Folgen ihrer Erfindungen.

 

Durch alle fünf Kapitel zieht sich die Annahme, dass der Zweck die Mittel heilige, namentlich, dass für das sog. Allgemeinwohl (Nation, Autarkie, Fortschritt) individuelle oder kollektive Opfer zu bringen seien. Stilistisch wie inhaltlich bedient sich Schenzinger dabei großer sprachlicher Gesten. Beispielsweise enthält der Text eine große Zahl elliptischer Passagen, die zur besonderen Betonung versähnlich abgesetzt sind:

 

„Ein stilles Ringen begann,

eine Arbeit unter Einsatz von Gesundheit und Leben,

ein Heldentum ohne Publikum,

keine Arena der 80 000,

keine Reporter, keine Schlagzeilen,

keine Auszeichnungen,

kein Heeresbericht.“[9]

 

Diese Rhythmisierung des Erzählflusses soll die Trommeln aus dem Kautschuk-Kapitel aufnehmen, „bóngtamtam… bóngtamtam… bóngtám…[10] und erweckt den Eindruck sprachlicher Marschmusik und militärischer Parade. Bisweilen abgedroschene Wendungen und Zitate aus dem literarischen Kanon der schulischen Mittelstufe („Hofmann zitierte Goethe, leise den Götz, und laut den Tasso: ‚Zwar trifft es mich, doch trifft es mich nicht tief‘.“[11]) dienen dazu, den Wiedererkennungseffekt zu erhöhen; die Lesenden sollen bei den Abenteuern der von der Sache und nicht von niederen Interessen beseelten Forscherpioniere mitfiebern können, ohne aus dem Lesefluss zu geraten. Insgesamt soll der Eindruck entstehen, die Chemie, vorangetrieben von einzelnen herausragenden Protagonisten, kämpfe für die Rettung der Menschheit: Die Geschichte der I.G. Farben als Groschenabenteuerroman.

(SP)



Literatur

Schenzinger, Karl Aloys: Bei I.G. Farben. München/Wien: Andermann 1953.

[1] Karl Aloys Schenzinger: Bei I.G. Farben. München/Wien: Andermann 1953, S. 95.

[2] Schenzinger: Bei I.G. Farben, S. 78.

[3] Schenzinger: Bei I.G. Farben, S. 98.

[4] Schenzinger: Bei I.G. Farben, S. 110.

[5] Schenzinger: Bei I.G. Farben, S. 159.

[6] Schenzinger: Bei I.G. Farben, S. 259.

[7] Schenzinger: Bei I.G. Farben, S. 337.

[8] Schenzinger: Bei I.G. Farben, S. 379.

[9] Schenzinger: Bei I.G. Farben, S. 198.

[10] Schenzinger: Bei I.G. Farben, S. 36.

[11] Schenzinger: Bei I.G. Farben, S. 219.