Glossar

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Buna. Roman eines Kunststoffes von Manfred Kühne (1985)

 a  „Scharen neuer Gesichter erschienen auf der Baustelle. Rumänische Juden! Sie wurden durch die SS-Posten streng von den übrigen Häftlingen abgesondert und erhielten die schwersten Arbeiten. Unerbittlich sausten die Prügel der Aufseher auf sie nieder. Wer zusammenbrach, blieb liegen. Niemand durfte ihm helfen. Stamm sah sich außerstande, der ständig um sich greifenden Brutalität Einhalt zu tun. Wie eine Epidemie erfaßte sie alle Abschnitte, preßte die letzte Kraft aus den Häftlingen. Täglich wuchs die Zahl der Kranken und Verletzten.“

(Manfred Kühne: Buna. Roman eines Kunststoffes. Halle/Leipzig: Mitteldeutscher Verlag 1985, S. 56.)

 

 b  „Der Betrieb hatte all die Jahre für ihn gesorgt. Jetzt war es an ihm, sich würdig zu zeigen.“

(Manfred Kühne: Buna. Roman eines Kunststoffes. Halle/Leipzig: Mitteldeutscher Verlag 1985, S. 25.)

 

 c  Erich Stamm wird Zeuge einer Selektion, die Dr. Kaltstein, ein I.G.-Farben Angestellter, durchführt:

„Gegen Abend, als sich die gestreiften Kolonnen zum Rückmarsch nach Auschwitz formierten, wartete der Oberingenieur mit mehreren IG-Leuten am Werksausgang […] In Fünferreihen begann der Häftlingsstrom sich in Bewegung zu setzen, auf beiden Seiten eskortiert von Aufsehern und SS-Wächtern, die Knüppel und braunschwarze, an den Leinen zerrende Hunde bei sich hatten. Bei jedem Zeichen, das Dr. Kaltstein mit der Hand gab, rissen SS-Leute einen oder mehrere Häftlinge aus der Reihe und drängten sie auf die Seite, wo sie von Uniformierten auf bereitstehende Lastwagen gestoßen wurden. Stamm sah, es betraf die besonders Entkräfteten, deren skelettähnliches Äußere oder deren taumelnder Gang keine hohen Arbeitsleistungen mehr erwarten ließ.“

(Manfred Kühne: Buna. Roman eines Kunststoffes. Halle/Leipzig: Mitteldeutscher Verlag 1985, S. 57–58.)

 

 d  „Kaum sechs Wochen, und man hatte sich beinah an alles gewöhnt! Negergesichter. Konserven. Sonntagspredigten und Messerstecherei. Kaugummi und Zwölfstundentag! Der Distriktsvorsteher, ein zugewanderteer Tellerwäscher aus Ohio, der die leitenden Ingenieure oft zur Pokerrunde besuchte, haßte die Deutschen. Der magenkranke Arzt in der Behelfsambulanz roch ewig nach Brandy. An dem Tag, als ein Amerikaner einen Mann aus Dublin anschoß, rotteten sich die Mexikaner zusammen, weil man ihnen im Company-Store verdorbenes Pökelfleisch verkauft hatte. Der Hilfssheriff erschien mit zwei Bewaffneten und mußte vom Apparat des Ingenieurs Verstärkung herbeitelefonieren. Vier Stunden später geriet ein Mulattenjunge unter einen Sattelschlepper. Der betrunkene Arzt amputierte ihm das linke Bein.“

(Manfred Kühne: Buna. Roman eines Kunststoffes. Halle/Leipzig: Mitteldeutscher Verlag 1985, S. 172–173.)

 

 e  Zuhause, bei der Parteileitung: „Diese amerikanischen Militärrichter! Denkt jemand, daß die ein ehrliches Urteil sprechen werden? Mit den Verbrechern unter einer Decke stecken die!“

(Manfred Kühne: Buna. Roman eines Kunststoffes. Halle/Leipzig: Mitteldeutscher Verlag 1985, S. 378.)

 

 f  „Allmählich schälte sich ein Bild heraus. Das Bild eines ungeheuren Betrugs! Stamm war machtlos gegen die Vision. […] Den Kindern die Väter weggenommen hatten sie! Den Vätern die Kinder! Den Frauen die Männer! Den Männern die Familie! Mit welchem Recht? Von Vaterland und Heldentum war die Rede gewesen!“

(Manfred Kühne: Buna. Roman eines Kunststoffes. Halle/Leipzig: Mitteldeutscher Verlag 1985, S. 222.)

 

 g  In einem Entschuldigungsbrief an Ruth: „Wenn ich nicht so eine Jugend gehabt hätte, und dann die Arbeitslosigkeit! Man hätte eben viel früher einen kennen müssen, der Bescheid weiß…“

(Manfred Kühne: Buna. Roman eines Kunststoffes. Halle/Leipzig: Mitteldeutscher Verlag 1985, S. 223–224.)

Erich Stamm, Vorarbeiter im Buna-Werk Schkopau der I.G. Farben, wird 1941 nach Auschwitz versetzt. Der Familienvater aus ärmlichen Verhältnissen, den erst der Rüstungsaufschwung der Regierung Hitler wieder in sichere ökonomische Verhältnisse brachte, sieht seine als passiv-positiv geschilderte Zustimmung zum Regime hier auf eine harte Probe gestellt: ausgelöst durch den Anblick der geschundenen KZ-Häftlinge auf der Baustelle  a  und erzählerisch an die persönliche Bekanntschaft zu einem von ihnen geknüpft, dem ukrainischen Rotarmisten Viktor Warinow, empört sich Stamm ehrlich über die Gleichgültigkeit seiner Vorgesetzten angesichts der Behandlung der KZ-Häftlinge. Je mehr er von den Vorgängen erfährt, desto größer wird auch seine Verwirrung: Hin und hergerissen zwischen der Dankbarkeit seinem Betrieb gegenüber  b  und der Empörung über dessen offensichtliche Verstrickung in Unmenschlichkeit und Ausbeutung  c  wird aus dem naiven Arbeiter ein von Gewissensbissen veränderter Mann. Als dank Viktors Sabotage ein Treibstofflager explodiert, deckt ihn Stamm. Viktor gelingt kurz darauf die Flucht.

 

Gemeinsam mit seinem Vorgesetzten wird Stamm zu einem geheimen Sonderauftrag zurückbeordert. Unter größter Geheimhaltung werden die beiden Männer in die USA geflogen, wo sie beim Bau einer Kautschukfabrik in Iron Water, Texas, für die Standard Oil eingesetzt werden. Die internationalen Verstrickungen seiner Firma, über die er von der jüdischen Exilwienerin und gewerkschaftlich organisierten Journalistin Ruth Styschansky Details erfährt, empören Stamm, zumal die Zustände auf der Baustelle denen in Monowitz ähnlich dargestellt werden: Rassismus prägt den Alltag in der riesigen internationalen Belegschaft, häufig kommt es zu schweren Verletzungen.  d  Parallel werden die Flucht Viktors und seine Rückkehr zu einer Einheit der Roten Armee und der schwierige Kriegsalltag von Stamms Ehefrau Thea erzählt. Sie bekommt von der I.G. Farben mitgeteilt, dass ihr Mann Erich vermisst, wahrscheinlich tot sei, und lässt sich vom Nachbarn Paul Bornschein trösten.

 

Auf verschiedenen Ebenen verfolgt der Roman einerseits die politische Vernetzung der I.G. Farben, die als bis in die höchsten Ebenen amerikanischer Politik reichend geschildert wird, andererseits den verlustreichen Kampf der Roten Armee am Beispiel Viktors und seines jugendlichen Sohnes Boris gegen die deutsche Wehrmacht, bei dem Viktor umkommt.

 

Nach Kriegsende kehrt Erich Stamm nach Deutschland zurück und schlägt sich illegal bis in die Sowjetische Besatzungszone durch, wo er erfährt, dass Thea inzwischen mit Paul verheiratet ist. Er lernt Margot Westerland kennen und zieht bei ihr ein. Sie, Tochter eines ermordeten Kommunisten, begeistert Erich Stamm für die kommunistische Partei. Nachdem er vom Nürnberger Prozess gegen I.G. Farben zurückgekommen ist, wo er eine Zeugenaussage hätte machen sollen, wegen seiner kritischen Haltung jedoch nicht aufgerufen wurde  e , wird er in die Partei aufgenommen. Alle Anfangsschwierigkeiten (Misstrauen ihm gegenüber, schwierige Wiedereinstellung, Verheiratung seiner Ehefrau) überwindet Erich Stamm. Im letzten Kapitel wird eine Urlaubsreise im Jahr 1958 beschrieben, die Margot und Erich mit polnischen Freunden in der Nähe von Oświęcim unternehmen; beim abendlichen Gespräch kommt für Erich die Erinnerung an die Geschehnisse in Auschwitz wieder hoch, der Roman schließt mit der Frage: „Aber nun stand plötzlich diese neue Frage im Raum! Die Vergangenheit, war sie wirklich tot?“[1]

 

Die verschiedenen Handlungsstränge werden gegen Ende des Romans zusammengeführt: Boris, als Sergeant der Roten Armee in Schkopau eingesetzt, begegnet hier Stamm, dem Helfer seines Vaters; Stamm trifft bei den Nürnberger Prozessen die Journalistin Ruth wieder, die ihm erneut Hintergrundinformationen über die Machenschaften der I.G. und der US-Ermittler zukommen lässt. Der ehrliche Oberst Walter Sheridan wird von seinem böswilligen Schwager und seiner Ehefrau für unmündig erklärt, als er droht, die korrupten Machenschaften der großen Ölmultis an die Öffentlichkeit zu bringen – sie alle sind von der Industrie Betrogene.

 

Der Protagonist Erich Stamm, dem die Leser/innen auf seinem Weg zur Erkenntnis folgen, deckt exemplarisch den nationalsozialistischen Betrug an der Bevölkerung (namentlich den Arbeiter/innen) auf.  f  Dabei folgt seine Erkenntnis jedoch nur aus persönlicher Anschauung, die ihm möglich wird, weil er als Spielball der Mächtigen quer über den Atlantik transportiert wird. Das Wissen über die Verbrechen NS-Deutschlands und Kartellabsprachen der Großindustrie bleibt damit etwas Exklusives, das Nicht-Wissen der Mehrheit ist zu rechtfertigen.  g  Im Fokus steht der ‚Faschismus als extremste Erscheinungsform des Kapitalismus‘, dem idealistische, aufrechte Menschen trotzen können, indem sie ein besseres, nämlich kommunistisches, System aufbauen. Der exemplarische KZ-Häftling, und auch hierin folgt der Roman dem DDR-Narrativ, ist ein Rotarmist; die größere Menge jüdischer Häftlinge wird nicht thematisiert.

 

Manfred Kühnes Roman kann als ‚real-sozialistisches‘ Pendant zu Aloys Schenzingers Roman Anilin. Roman der deutschen Farbenindustrie gelesen werden: Nicht nur die Titel ähneln einander, auch formal finden sich Parallelen, etwa durch die den einzelnen Kapiteln vorangestellten Zitate: Während dies in Anilin flammende Plädoyers für die Chemische Industrie sind, handelt es sich in Buna um Aussagen früherer I.G.-Mitarbeiter. Als Genre wurde jeweils das der Intention angemessenere gewählt: Groschen-Abenteuerroman der eine, Arbeiter-Bildungsroman der andere. Ähnlich bleibt auch die Tendenz zum Opfermythos: in Anilin handelt er von der chemischen Industrie, Buna beschreibt den um Familie, Haus und Glück betrogenen Arbeiter. Dass Stamm durch seine Arbeit lange Kriegsindustrie und Regime stützte, ist in der Logik des Romans nur den herrschenden Machtverhältnissen geschuldet. Dem idealisierenden Bild der kämpfenden Rotarmisten und der aufrechten Kommunist/innen stehen die als machtgierig geschilderte amerikanische Führungsriege und die Beschreibung von Verbrechen von SS und Wirtschaftseliten gegenüber; einzelne löbliche Ausnahmen (etwa die ehrlich um juristische Aufarbeitung bemühten Angehörigen der unteren Ränge der U.S. Army) scheitern ebenso an den kapitalistischen Interessen wie ihre deutsche Parallelfigur Erich Stamm.

(SP)



Literatur

Kühne, Manfred: Buna. Roman eines Kunststoffes. Halle/Leipzig: Mitteldeutscher Verlag 1985.

[1] Manfred Kühne: Buna. Roman eines Kunststoffes. Halle/Leipzig: Mitteldeutscher Verlag 1985, S. 392.