Glossar

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‚Anwerbung‘ zur Zwangsarbeit

 a  Stefania Gut, geb. 1924, eine polnische Dorfbewohnerin, beschreibt die ‚Rekrutierung‘: „Ich habe auf dem Land gelebt, im Dorf Slubica in Ostpolen. Eines Tages, ich weiß nicht mehr genau wann das war, erhielt ich eine schriftliche Aufforderung, mich beim nächsten Arbeitseinsatz zur Arbeit zu melden. Ich war damals erst 16 Jahre alt und habe diesen Aufruf wie die meisten bei uns einfach ignoriert. Nur kurze Zeit später sind da aber plötzlich die Deutschen gekommen und haben unser Dorf in Brand gesetzt. Bei meiner Seele jedes zweite Haus haben sie angezündet. Wer sich nicht freiwillig zur Arbeit meldet, haben sie gedroht, dem würden sie die ganze Familie erschlagen, damit ein Exempel statuiert wird.“

(zit. n. Dieter G. Maier: Arbeitsverwaltung und NS-Zwangsarbeit. In: Ulrike Winkler (Hg.): Stiften gehen. NS-Zwangsarbeit und Entschädigungsdebatte. Köln: PapyRossa 2000, S. 67–84, hier S. 74–75.)

Ab 1935 bestand im Deutschen Reich Arbeitskräftemangel in bestimmten Berufen, der mit der forcierten Kriegsvorbereitung des NS-Regimes in den folgenden Jahren noch anstieg. Es sollten daher verstärkt Arbeitnehmer aus dem Ausland angeworben werden. Bis 1940 fanden solche Werbungen parallel von staatlicher und privatwirtschaftlicher Seite statt, danach machten die staatlichen Arbeitseinsatzbehörden hierfür ein Monopol geltend. Diese Anwerbungen fanden in mit dem Deutschen Reich verbündeten Staaten statt. Zunächst schloss das Deutsche Reich ab 1938 mit einigen europäischen Staaten ein Abkommen über die „Beschäftigung von Landarbeitern“[1], und führte in mehreren Ländern Werbemaßnahmen durch. Es können – je nach Beziehungen der Zielländer zum Deutschen Reich – vier verschiedene Anwerbeverfahren unterschieden werden: Die reine Werbung, die Werbung mit erheblicher Beeinflussung der Existenzbedingungen, die Aushebung ganzer Jahrgänge mit Hilfe der einheimischen Verwaltung und die zwangsweise Verschleppung.

 

Mit befreundeten und neutralen Staaten hatte das Deutsche Reich Abkommen geschlossen, so dass deren Angehörige in der Regel freiwillig und unter relativ gesicherten rechtlichen Bedingungen nach Deutschland kamen; änderten sich jedoch die Verhältnisse, so hatten die Arbeiter/innen darunter zu leiden, wie etwa im Fall Italiens. Diese Art der Arbeitskräftewerbung führte jedoch nicht zur von deutscher Seite gewünschten Zahl ausländischer Arbeitskräfte. Einwohner/innen besetzter oder annektierter Staaten[2] wurden weniger freundlich rekrutiert: viele ließen sich durch Versprechungen hoher Lohnzahlungen überzeugen, zum Arbeiten nach Deutschland zu kommen, der Anwerbung für Industrie und Landwirtschaft folgten zunächst zahlreiche Interessierte auf freiwilliger Basis. Bald sprachen sich jedoch die schlechten Bedingungen für die Arbeiter/innen (miserable Behandlung, Nichteinhaltung von Verträgen) in Deutschland herum, und die Zahl freiwilliger Meldungen ging „drastisch zurück“[3]. Daher griffen die deutschen Anwerber zu „Beeinflussungsmaßnahmen“. Das heißt, sie sorgten dafür, dass die Löhne in den besetzten Gebieten sanken, Betriebe geschlossen wurden und die Arbeitslosigkeit weiter anstieg. Zudem bestand eine Arbeitslosenmeldepflicht. Wer sich nicht meldete, riskierte Kürzungen der Sozialleistungen für seine gesamte Familie.

 

Doch selbst diese Maßnahmen steigerten nicht die Zahl der „Freiwilligenmeldungen“. Seit 1942 wurden etwa in Frankreich Zwangsrekrutierungen ganzer Jahrgänge durchgeführt (Service Travail Obligatoire, STO). In Polen bestand bereits im Jahr 1940 für 14-Jährige Arbeitspflicht in Deutschland. Den besetzten Bezirken wurde ein Pflichtkontingent an Arbeitskräften auferlegt. Dabei wurde die einheimische Verwaltung beauftragt, Arbeitskräfte einzuziehen, was die Proteste der Bevölkerung in Grenzen hielt. In Polen wurden besonders starke Druckmittel eingesetzt  a . Wer nicht ‚freiwillig‘ mitkam, dem wurde gedroht, seine Familie zu inhaftieren oder ihn selbst in ein KZ einzuweisen.

 

In Polen zwangen die deutschen Behörden seit Ende 1939 die jüdische Bevölkerung in Ghettos, wo sie Zwangsarbeit leisten musste. Von dort aus wurden die Jüdinnen und Juden in Vernichtungslagerdeportiert und die meisten von ihnen ermordet.

 

In der Sowjetunion verordnete die deutsche Besatzungsbehörde am 19. Dezember 1941, dass für alle arbeitsfähigen Bewohner/innen Arbeitspflicht bestehe. Bei Widerstand gegen die deutschen Arbeitsbehörden wurden Häuser bzw. ganze Dörfer niedergebrannt. Vielerorts wurden sogenannten „Menschenjagden“ oder „Sklavenjagden“ durchgeführt: Auf offener Straße wurden Menschen aufgegriffen und zu Deportationsstellen gebracht. Die Deportationen liefen immer nach dem gleichen Schema ab: Die Menschen wurden an Bahnhöfen zusammengetrieben und nach Deutschland transportiert. Wer Glück hatte, dem konnten Familienangehörige noch etwas Proviant oder Kleidung zustecken. Der Transport von polnischen und sowjetischen Arbeiter/innen erfolgte meist in geschlossenen Gü terwaggons. Meistens wurden die Zwangsarbeiter/innen in Übergangslagern untergebracht, bis sie zu ihren Einsatzstellen weitergebracht wurden. Unter der Leitung von Fritz Sauckel, seit März 1942 „Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz“, fanden millionenfache Zwangsrekrutierungen von Menschen aus ganz Europa statt.

(BG)



Literatur

Herbert, Ulrich: Fremdarbeiter. Politik und Praxis des „Ausländer-Einsatzes“ in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches. Berlin/Bonn: Dietz 1985.

Maier, Dieter G.: Arbeitsverwaltung und NS-Zwangsarbeit. In: Ulrike Winkler (Hg.): Stiften gehen. NS-Zwangsarbeit und Entschädigungsdebatte. Köln: PapyRossa 2000, S. 67–84.

Spoerer, Mark: Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz. Stuttgart/München: DVA 2001.

[1] Dieter G. Maier: Arbeitsverwaltung und NS-Zwangsarbeit. In: Ulrike Winkler (Hg.): Stiften gehen. NS-Zwangsarbeit und Entschädigungsdebatte. Köln: PapyRossa 2000, S. 67–84, hier S. 71.

[2] Also das „Protektorat Böhmen und Mähren“, Polen (Generalgouvernement), Frankreich, Belgien, Niederlande, Luxemburg, Norwegen, Dänemark, Serbien und die Sowjetunion, vgl. Maier: Arbeitsverwaltung, S. 72.

[3] Maier: Arbeitsverwaltung, S. 74.