Die Befreiung des KZ Buna/Monowitz
„23. Januar. Unsere Kartoffeln waren zu Ende. Seit Tagen ging in den Baracken das Gerücht um, daß sich eine riesige Kartoffelmiete irgendwo außerhalb des Stacheldrahts nicht weit vom Lager befände […]
Die Kartoffeln lagen ungefähr vierhundert Meter vom Lager entfernt, ein Schatz: zwei riesig lange Gräben voller Kartoffeln, zum Schutz gegen den Frost abwechselnd mit Erde und Stroh bedeckt. Keiner würde mehr Hungers sterben.
Aber das Ausheben war keine geringe Mühe. Die Erdoberfläche war steinhart gefroren. In schwerer Arbeit mit der Spitzhacke gelang es einem, die Erdkruste aufzubrechen und die Miete freizulegen; doch die meisten zogen es vor, in die von den andern verlassenen Löcher hineinzukriechen; sie drangen sehr tief ein und reichten die Kartoffeln an die Kameraden weiter, die draußen standen.“
(Primo Levi: Ist das ein Mensch? Erinnerungen an Auschwitz. Frankfurt am Main: Fischer 1961, S. 174.)
‚Lagerältester ans Tor‘ wurde durch das Lager gerufen und es blieb mir nichts anderes übrig, als mich so schnell wie möglich nach vorne zu begeben. Jetzt hast du den letzten Dreck geschissen, dachte ich. Zwei Daimler Autos standen an der Seite. Daneben befand sich eine Horde SS Leute, mit Maschinenpistolen ausgestattet, die auf 11 Leute in SS Uniform zielten. Ohne Zweifel, es waren unsere Ausreißer. Sie standen in einer Reihe zitternd und mit erhobenen Händen da. Der Rangälteste von den SS Chargen nahm mich zur Seite und fing an mich auszufragen. Im ersten Moment war mir klar, dass man mich wegen meiner Kleidung, die ich mir in der Lagerküche angeeignet hatte, für einen Reichsdeutschen halten musste. Dies wurde noch dadurch bekräftigt, dass Deutsch meine Muttersprache ist. Ich war von Haus aus gewohnt, Hochdeutsch zu sprechen, was meinen Gegenübern sichtlich imponierte. Er schöpfte keinen Verdacht und hielt mich nicht für einen Juden. ‚Diese Juden haben sich an deutschem Volksgut vergriffen und ich muss sie umlegen‘. Er wartete nicht auf meine Antwort, sondern kommandierte: ‚Anlegen, Feuer‘! Die Hinrichtung war eine Sache von Sekunden. Als die armen Sünder noch zappelnd am Boden lagen, wurde mir befohlen, alle auf den Bauch zu legen, um ihnen noch eine Kugel in den Kopf zu jagen. So schnell wie die SS Leute kamen, so schnell verschwanden sie dann auch. Ich stand eine Weile wie versteinert da und war schockiert von den Geschehnissen. Einsam kehrte ich zu meinen Leuten zurück. Niemand traute seinen Augen, mich noch lebendig zu sehen. Ich war überzeugt davon, auch ein Opfer dieses Massakers geworden zu sein, hätte ich nur den Davidstern auf der Brust gehabt. Am folgenden Tag waren sich alle einig, dass wir die SS nicht mehr zu Gesicht bekommen würden.“
(Shmuel Argow: Lebenserinnerungen. Unveröffentlichtes Manuskript, undatiert, 31 Seiten. Archiv des Fritz Bauer Instituts, S. 14–15.)
(Danuta Czech: Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau 1939–1945. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1989, S. 994.)
Als Mitte Januar 1945 die Rote Armee immer weiter nach Westen vorrückte und bald Auschwitz erreichen würde, bereiteten das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) und die SS die Räumung der Konzentrationslager vor. Am Tag vor der Räumung des KZ Buna/Monowitz ging ein SS-Arzt durch den Häftlingskrankenbau und entschied, wer gehen und wer bleiben sollte. Nachdem die Häftlingskolonnen am 18. Januar 1945 das Lager verlassen hatten, blieben im Häftlingskrankenbau 850 kranke Häftlinge zurück, darunter ein Hilfsarzt und 18 Ärzte. Sie hatten drei Rationen Brot und etwas Margarine erhalten und waren sich selbst überlassen worden. Am 19. Januar 1945 erfolgte ein letzter alliierter Luftangriff, Phosphorbomben entzündeten mehrere Baracken, glücklicherweise jedoch nicht den Krankenbau, in dem die meisten der überlebenden Häftlinge untergebracht waren. In der Stadt Auschwitz und den Lagern fielen Strom- und Wasserversorgung aus. D.h. es gab keine Versorgung der Häftlinge, weder mit Lebensmitteln, noch mit Trinkwasser und Heizungsmaterialien, „die Deutschen hatten die kranken Häftlinge ihrem Schicksal überlassen“[1].
Der SS-Beauftragte für Schlesien, Heinrich Schmauser, hatte am 20. Januar befohlen, alle marschunfähigen Häftlinge zu erschießen. Aus nicht geklärten Gründen und zum großen Glück für die Häftlinge verließ die SS jedoch am 25. Januar fluchtartig das Lager, ohne diesem Befehl Folge zu leisten. Die stärksten der Überlebenden im KZ Buna/Monowitz, also diejenigen, die sich noch irgendwie auf den Beinen halten konnten, versuchten, Hilfe für die übrigen zu organisieren. Einige wählten sich einen Lagerältesten, Shmuel Argow, andere versuchten selbstorganisiert, eine notdürftige Lebensmittelversorgung aufzubauen. So berichtet Primo Levi von einem Kartoffellager außerhalb des KZ Buna/Monowitz, in dem sie Nahrung für einige Tage ausheben konnten.
Von den 850 zurückgebliebenen Häftlingen starben innerhalb einer Woche 200 an mangelnder Versorgung mit Lebensmitteln und Medizin, da die Deutschen bei ihrem Abzug nichts zurückließen. Am Samstag, dem 27. Januar 1945, betrat morgens der erste russische Soldat das Gelände des Häftlingskrankenbaus Buna/Monowitz.
Obwohl die Rote Armee das Lager unmittelbar nach der Befreiung mit Lebensmitteln und medizinischer Hilfe versorgte, starben in den folgenden Wochen noch zahlreiche ehemalige Häftlinge an den Haftfolgen und der zu schnellen Umstellung auf normale Ernährung und Portionen. Die Überlebenden des KZ Buna/Monowitz benötigten zumeist noch einige Wochen, bis sie sich körperlich soweit erholt hatten, dass sie sich auf den Weg zurück ins Leben machen konnten – in ihre Herkunftsländer die einen, in die Emigration, vor allem ins Britische Mandatsgebiet Palästina (später Israel) und in die USA, die anderen.
(SP)