Glossar

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Die Befreiung des KZ Buna/Monowitz

 a  Primo Levi beschreibt die Situation in seinem autobiographischen Roman Ist das ein Mensch?:

„23. Januar. Unsere Kartoffeln waren zu Ende. Seit Tagen ging in den Baracken das Gerücht um, daß sich eine riesige Kartoffelmiete irgendwo außerhalb des Stacheldrahts nicht weit vom Lager befände […]

Die Kartoffeln lagen ungefähr vierhundert Meter vom Lager entfernt, ein Schatz: zwei riesig lange Gräben voller Kartoffeln, zum Schutz gegen den Frost abwechselnd mit Erde und Stroh bedeckt. Keiner würde mehr Hungers sterben.

Aber das Ausheben war keine geringe Mühe. Die Erdoberfläche war steinhart gefroren. In schwerer Arbeit mit der Spitzhacke gelang es einem, die Erdkruste aufzubrechen und die Miete freizulegen; doch die meisten zogen es vor, in die von den andern verlassenen Löcher hineinzukriechen; sie drangen sehr tief ein und reichten die Kartoffeln an die Kameraden weiter, die draußen standen.“

(Primo Levi: Ist das ein Mensch? Erinnerungen an Auschwitz. Frankfurt am Main: Fischer 1961, S. 174.)

 

 b  „[U]m 4 Uhr erschien bei uns ein Lastwagen der Wehrmacht, ausgestattet mit Brot, Wurst und anderen Lebensmitteln. Mein Nebenblock war hauptsächlich mit griechischen Juden belegt. Da ich bei uns nicht genügend Plätze hatte, bat ich unsere Nachbarn, dieses kostbare Gut bis zum Morgen aufzubewahren. Da es kurz davor war, dunkel zu werden, konnten wir die Lebensmittel nicht verteilen. Es boten sich einige Mann an, aufzupassen, damit nichts gestohlen werden würde. Der Tag brach an und ich ging mit meinen Helfern in die Nebenbaracke, um mit der Verteilung zu beginnen. Es wurde mir schwarz vor Augen, als ich bemerkte, dass kaum Insassen in dem Block waren und fast alles Brot usw. nicht mehr vorhanden war. Diebstahl? Nein, das war Mord an den eigenen Kameraden. Die wenigen Insassen, die noch in diesem Gebäude geblieben waren, lagen in ihren Betten und kauten Essen. Wir schlugen von allen Seiten auf sie ein und versuchten ihnen ein Teil der Lebensmittel zu entreißen. Es war sehr sehr schwer, jeder kämpfte, als ginge es um sein Leben. Ein etwas vernünftigerer Insasse erklärte mir, dass der Raub während der Nacht getätigt wurde und die Diebe mit den gestohlenen Gütern in eine Baracke des SS Lagers gelaufen waren, in welcher sie sich wohnlich einrichteten. Wie ein Feuer breitete sich die Nachricht aus, dass man von den eigenen Kameraden bestohlen wurde. Mit Stöcken und Messern kamen meine Kameraden auf mich zu, denn sie sahen in mir den Schuldigen für diesen Vorfall. Sie zwangen mich unter massiven Drohungen, etwas zu unternehmen, damit noch etwas Essbares unter die Leute käme. Ich hatte keine Wahl und so ging ich in das SS Lager, wo ich aus einem der Lokale Klaviermusik hörte. Als ich die Tür aufriss, bot sich mir folgendes Bild. Alle waren sinnlos betrunken und aßen von den gestohlenen Sachen. Was mich besonders erschreckte war die Tatsache, dass sie sich alle SS Kleidung angeeignet hatten, die in Massen vorhanden war. Mit hoher Stimme schrie ich sie an und beschimpfte sie als ‚Mörder‘. Ich sagte, dass ich die SS holen würde, wenn sie nicht sofort zurück ins Lager kämen. Die SS würde dann aufräumen. Als Antwort warf man mir Bierflaschen entgegen. Ich sah, dass mein Bluff überhaupt keinen Eindruck auf sie machte und kehrte ins Lager zurück. Alle waren auf Rache aus, doch hatte keiner die Kraft, etwas unternehmen zu können.

‚Lagerältester ans Tor‘ wurde durch das Lager gerufen und es blieb mir nichts anderes übrig, als mich so schnell wie möglich nach vorne zu begeben. Jetzt hast du den letzten Dreck geschissen, dachte ich. Zwei Daimler Autos standen an der Seite. Daneben befand sich eine Horde SS Leute, mit Maschinenpistolen ausgestattet, die auf 11 Leute in SS Uniform zielten. Ohne Zweifel, es waren unsere Ausreißer. Sie standen in einer Reihe zitternd und mit erhobenen Händen da. Der Rangälteste von den SS Chargen nahm mich zur Seite und fing an mich auszufragen. Im ersten Moment war mir klar, dass man mich wegen meiner Kleidung, die ich mir in der Lagerküche angeeignet hatte, für einen Reichsdeutschen halten musste. Dies wurde noch dadurch bekräftigt, dass Deutsch meine Muttersprache ist. Ich war von Haus aus gewohnt, Hochdeutsch zu sprechen, was meinen Gegenübern sichtlich imponierte. Er schöpfte keinen Verdacht und hielt mich nicht für einen Juden. ‚Diese Juden haben sich an deutschem Volksgut vergriffen und ich muss sie umlegen‘. Er wartete nicht auf meine Antwort, sondern kommandierte: ‚Anlegen, Feuer‘! Die Hinrichtung war eine Sache von Sekunden. Als die armen Sünder noch zappelnd am Boden lagen, wurde mir befohlen, alle auf den Bauch zu legen, um ihnen noch eine Kugel in den Kopf zu jagen. So schnell wie die SS Leute kamen, so schnell verschwanden sie dann auch. Ich stand eine Weile wie versteinert da und war schockiert von den Geschehnissen. Einsam kehrte ich zu meinen Leuten zurück. Niemand traute seinen Augen, mich noch lebendig zu sehen. Ich war überzeugt davon, auch ein Opfer dieses Massakers geworden zu sein, hätte ich nur den Davidstern auf der Brust gehabt. Am folgenden Tag waren sich alle einig, dass wir die SS nicht mehr zu Gesicht bekommen würden.“

(Shmuel Argow: Lebenserinnerungen. Unveröffentlichtes Manuskript, undatiert, 31 Seiten. Archiv des Fritz Bauer Instituts, S. 14–15.)

 

 c  Aus dem Kalendarium: „Eine halbe Stunde später kommt die ganze Abteilung [Aufklärungstruppe der 100. Infanteriedivision des 106. Korps der Roten Armee] an. Die Soldaten verteilen ihr Brot unter den Kranken. Am selben Tag trifft ein Militärarzt im Rang eines Kapitäns ein und beginnt Hilfe zu organisieren.“

(Danuta Czech: Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau 1939–1945. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1989, S. 994.)

Als Mitte Januar 1945 die Rote Armee immer weiter nach Westen vorrückte und bald Auschwitz erreichen würde, bereiteten das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) und die SS die Räumung der Konzentrationslager vor. Am Tag vor der Räumung des KZ Buna/Monowitz ging ein SS-Arzt durch den Häftlingskrankenbau und entschied, wer gehen und wer bleiben sollte. Nachdem die Häftlingskolonnen am 18. Januar 1945 das Lager verlassen hatten, blieben im Häftlingskrankenbau 850 kranke Häftlinge zurück, darunter ein Hilfsarzt und 18 Ärzte. Sie hatten drei Rationen Brot und etwas Margarine erhalten und waren sich selbst überlassen worden. Am 19. Januar 1945 erfolgte ein letzter alliierter Luftangriff, Phosphorbomben entzündeten mehrere Baracken, glücklicherweise jedoch nicht den Krankenbau, in dem die meisten der überlebenden Häftlinge untergebracht waren. In der Stadt Auschwitz und den Lagern fielen Strom- und Wasserversorgung aus. D.h. es gab keine Versorgung der Häftlinge, weder mit Lebensmitteln, noch mit Trinkwasser und Heizungsmaterialien, „die Deutschen hatten die kranken Häftlinge ihrem Schicksal überlassen“[1].

 

Der SS-Beauftragte für Schlesien, Heinrich Schmauser, hatte am 20. Januar befohlen, alle marschunfähigen Häftlinge zu erschießen. Aus nicht geklärten Gründen und zum großen Glück für die Häftlinge verließ die SS jedoch am 25. Januar fluchtartig das Lager, ohne diesem Befehl Folge zu leisten. Die stärksten der Überlebenden im KZ Buna/Monowitz, also diejenigen, die sich noch irgendwie auf den Beinen halten konnten, versuchten, Hilfe für die übrigen zu organisieren. Einige wählten sich einen Lagerältesten, Shmuel Argow, andere versuchten selbstorganisiert, eine notdürftige Lebensmittelversorgung aufzubauen. So berichtet Primo Levi von einem Kartoffellager außerhalb des KZ Buna/Monowitz, in dem sie Nahrung für einige Tage ausheben konnten.  a  Es kam jedoch auch zu Plünderungen durch die völlig ausgehungerten Häftlinge, teilweise spielten sich dramatische, grausame Szenen ab, wie z.B. der Überlebende Shmuel Argow berichtet.  b 

 

Von den 850 zurückgebliebenen Häftlingen starben innerhalb einer Woche 200 an mangelnder Versorgung mit Lebensmitteln und Medizin, da die Deutschen bei ihrem Abzug nichts zurückließen. Am Samstag, dem 27. Januar 1945, betrat morgens der erste russische Soldat das Gelände des Häftlingskrankenbaus Buna/Monowitz.  c 

 

Obwohl die Rote Armee das Lager unmittelbar nach der Befreiung mit Lebensmitteln und medizinischer Hilfe versorgte, starben in den folgenden Wochen noch zahlreiche ehemalige Häftlinge an den Haftfolgen und der zu schnellen Umstellung auf normale Ernährung und Portionen. Die Überlebenden des KZ Buna/Monowitz benötigten zumeist noch einige Wochen, bis sie sich körperlich soweit erholt hatten, dass sie sich auf den Weg zurück ins Leben machen konnten – in ihre Herkunftsländer die einen, in die Emigration, vor allem ins Britische Mandatsgebiet Palästina (später Israel) und in die USA, die anderen.

(SP)



Quelle

Argow, Shmuel: Lebenserinnerungen. Unveröffentlichtes Manuskript, undatiert, 31 Seiten. Archiv des Fritz Bauer Instituts.

 

Literatur

Czech, Danuta: Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau 1939–1945. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1989.

Levi, Primo: Ist das ein Mensch? Erinnerungen an Auschwitz. Frankfurt am Main: Fischer 1961.

Levi, Primo: Die Atempause. München: dtv 1994.

Levi, Primo / Debenedetti, Leonardo: Bericht über die hygienisch-gesundheitliche Organisation des Konzentrationslagers für Juden in Monowitz (Auschwitz – Oberschlesien). In: Primo Levi: Bericht über Auschwitz. Hg. v. Philippe Mesnard. Berlin: BasisDruck 2006, S. 59–96.

Wagner, Bernd C.: IG Auschwitz. Zwangsarbeit und Vernichtung von Häftlingen des Lagers Monowitz 1941–1945. München: Saur 2000.

[1] Bernd C. Wagner: IG Auschwitz. Zwangsarbeit und Vernichtung von Häftlingen des Lagers Monowitz 1941–1945. München: Saur 2000, S. 279.