Glossar

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Die Autobiographie Der grauende Morgen von Imo Moszkowicz (1998)

 a  „Da gab’s den Duvidl Goldstajn, der war ein Schneider aus Lodz, der den Steinbruch von Sachsenhausen überlebt hatte. So oft wir uns – nach alledem und alledem – begegneten, drängten wir die panischen Situationen aus unseren Gesprächen. Von der Jüdischkeit, die ihn in seiner Ghettokindheit geprägt hatte, kein Wort; – das Verlorene nur nicht nah kommen lassen, die Seele schonen! Immer klang das Jiddisch besonders lodzig, wenn er von komisch-gefährlichen Begebenheiten erzählte. Selbst wenn er davon sprach, wie er über den Bock gelegt wurde, um vierzig über den Arsch zu kriegen, und dem Lager-Kapo dabei die Peitsche zerriss, konnte er sich über das Missgeschick dieses Helfershelfers vor Lachen ausschütten. Nein, Duvidl war nicht verrückt; er war immer nur auf der Suche nach dem Witz des Lebens, um das Gegenwärtige annähernd zu verstehen.“

(Imo Moszkowicz: Der grauende Morgen. Eine Autobiographie. München: Knaur 1998, S. 27.)

 

 b  „Mir wurde klar, dass man mit uns umging wie mit Wesen, die eigentlich bereits tot sind. Und die, die uns peinigten, um durch ihr Wohlverhalten ihre Atemzeit zu verlängern, zu verbessern gar, gingen mit dieser Gegebenheit ohne jede mitmenschliche Rücksicht um. Wen der große Jammer packte, der verlor rapide seine Persönlichkeit. Das Weiteratmen war nur ein Aufschub, eine Frist ohne Gnade. Für die Bewacher auf den Türmen, die kontrollierenden Unterscharführer im umzäunten Lager, war ganz eindeutig, dass alles, was da krauchte – was da sogar als ihr verlängerter Arm, als Kapos und Blockälteste privilegiert, fungierte –, in den nächsten Stunden vielleicht schon nicht mehr existierte. Ob das Auslöschen dieser dahinvegetierenden Kreaturen heut' oder in naher Zukunft geschah, bedurfte keiner Entscheidung mehr: der Tod war beschlossen, und der Aufschub hatte nichts mehr mit dem zu tun, was man gemeinhin Leben nennt. Ergo waren aufkommende menschliche Reaktionen lästige Verschwendung. Das System des Mordens hatte eine eigene Methodik entwickelt, die von allein zu funktionieren schien. Ein perpetuum mortale? Die Uniformierten mussten ihre Hände kaum beschmutzen, ihre Opfer erledigten beinah' alles selbst. Das erzeugte eine Moral, die mit jener Moral, nach der die Welt versucht sich auszurichten, nichts gemein hatte. Begriffe wie Entrüstung, Ein- und Widersprüche, Aufmüpfigkeit, Diskussionen zur Lage – wie sie heutzutage unser Leben bestimmen –, waren nicht angesagt, waren undenkbar. Der Fatalismus, der beinahe jeden von uns befiel, war dem Tod ein wichtiger HeIfer. Waren wir von der Welt Vergessene?“

(Imo Moszkowicz: Der grauende Morgen. Eine Autobiographie. München: Knaur 1998, S. 111–12.)

 

 c  „Ich suchte den Bahnsteig nach Wuppertal. Nur schnell in den Zug und diese grausige Stadt verlassen, die so viel Vergangenheit einmahnt. Dort, dort drüben ist der Bahnsteig 1. Von dort brachte man meine Mutter und meine Geschwister in ein Vernichtungslager. Es war ein ganz normaler Personenzug, vollgepfropft mit Essener Juden, von einer mit aufgepflanztem Bajonett bestückten 55-Polizei-Mannschaft begleitet. Meiner weinenden Mutter riss der Schmerz des Abschieds einen lang gezogenen Schrei aus dem Körper, der sich, wie ein schriller, nervenzerfetzender Ton einer überdehnten Saite, über den ganzen Bahnhof legte. Sie nahm Abschied von uns Zurückgebliebenen, die wir ja in kriegswichtigem Einsatz waren, ahnend, dass sie ihre Kinder nie mehr wiedersehen wird. Dieser Schrei hat sich in mein Hirn gebrannt, und die unmenschliche Angst, die sich damit verbindet, verfolgt mich selbst in meinen zufriedensten Stunden. Ich höre ihn immer, immer, diesen langgezogenen Schrei meiner Mutter, diesen Urschrei voller Todesahnung. Auch sehe ich immerzu jene damit verbundene Situation, die neben der Gefährlichkeit auch etwas unsäglich Lächerliches hatte: die Wachmannschaft lud vor den Augen ihrer hilflosen Gefangenen mit lautem Kommando die Gewehre durch. Welch eine bornierte, großmannssüchtige Machtdemonstration, welche Maßlosigkeit, die da an vollkommen hilflosen Menschen vorgenommen wurde! Hätte ich damals nur ahnen können, wie sie am 10. Mai '45 aussehen werden! So wie ich sie in Reichenberg, das heute wieder Liberec heißt, unmittelbar nach meiner Befreiung, von den Russen gefangen, gesehen habe: verdreckt, abgeschlafft, mit vollgeschissenen Hosen; alles, alles wäre erträglicher gewesen. Neben den schnittigen Uniformen mit den blinkenden Koppeln sowie der Exaktheit der Marschierenden, mussten wir zwangsläufig wie etwas Minderwertiges wirken; wie etwas, das den Wachen das gefährliche Gefühl der Überheblichkeit gab. Das Sich-besser-Dünken machte sie so gefährlich, die Großmannssucht. Oder entsprang diese Überheblichkeit lediglich einem idiotischen Minderwertigkeitskomplex? Dass man uns Juden das, auserwählte Volke nennt, ist in der Nachbarschaft großjunkerhafter Deutschtümelei dummdreiste Ironie.“

(Imo Moszkowicz: Der grauende Morgen. Eine Autobiographie. München: Knaur 1998, S. 48–49.)

 

 d  Nach der Befreiung in Liberec:

„Wartend war es beinahe schon Abend geworden, und ich dachte, dass ich wohl dort, wo die Holländer sich angestellt hatten, nicht ganz verkehrt sein könnte. Ich verstehe, da ich Plattdütsch verstehe, bestimmt ihre Sprache, und außerdem ist Westfalen an Holland grenzend; ergo stimmte die generelle Richtung, in die es mich jetzt zog. Ich hatte eine eigene Entscheidung getroffen, die damit verbundenen Folgen abwägend, die mir nicht mehr gefährlich sein konnten. Mir wurde langsam klar, dass ich mich jetzt in einem Zustand der Unantastbarkeit bewegte, der mit frei sein zu tun hatte. Mir war wie einem Tier zumute, das plötzlich keine Gitter mehr um sich hat und keine Dressurpeitsche mehr zu spüren bekommt. Ich tappste an einem sonnigen Tag durch diese Welt, genoss seine Wärme, tief atmend. War das die Freiheit? Meine Gefühle waren für den Moment nicht dahingehend zu kultivieren, da ich die letzten Tage wie in einem Dämmerzustand verbracht hatte, die Umgebung nicht wahrnehmend. Und dieses Betäubtsein begleitete mich noch lange, immer wieder von dem Wunsch durchbrochen zu erkennen, was mit mir eigentlich los ist. Warum jubelte ich nicht? Warum sprang ich nicht in die Lüfte, abhebend wie ein freier Vogel? Ich weiß es bis heute nicht. Ich wusste nur, dass ich allein war und mich an gar nichts mehr klammem konnte.“

(Imo Moszkowicz: Der grauende Morgen. Eine Autobiographie. München: Knaur 1998, S. 196.)

Imo Moszkowicz kam 1942 mit 17 Jahren ins KZ Buna/Monowitz. Über 50 Jahre später erzählt er in seiner Autobiographie von der immer wiederkehrenden Vergangenheit, die sich nie ganz betäuben lässt. Er erzählt nicht historisch-chronologisch, sondern macht seine eigenen Assoziationen und Gefühle zu den Ausgangspunkten des Textes und erlaubt so einen sehr persönlichen, informellen Zugang zu seinen Erinnerungen und seinem Umgang mit ihnen. Diese Nähe wird durch die Perspektive des sich erinnernden Erzählers hergestellt, der während seines Lebens als Schauspieler und Regisseur in der Nachkriegszeit „süchtig auf dieses Vergessenkönnen“[1] war, ohne sich dem Erlebten entziehen zu können. Das erlebte Leid, der von Todesahnung erfüllte Schrei seiner Mutter, aber auch das feixende Zuschauen der Essener Bevölkerung bei der Deportation lassen ihm alle Versuche des Nachkriegstheaters, Leid darzustellen, nur lachhaft erscheinen. Ein Schauspieler, der wegen des Schreis einer Figur in echte Tränen ausbreche, sei nur Signal einer Darstellung, die Realität nie nachzuempfinden vermag. In Bahnhöfen martern ihn die Erinnerungen.   

 

Der Text folgt einer Ordnung die den Autor vor dem Unerträglichen schützt, indem sie immer wieder die Zeit nach der Befreiung und die Gegenwart zu einem Bestandteil des Textes macht und so den Blick in die Erinnerungen dem Positiven nicht verschließt. Der Einsatz von verschiedenen Sprachebenen ermöglicht einen komplexen Zugang zum Gehalt des Textes, da das subjektiv Empfundene meist metaphorisch, damit sehr bildhaft ausgedrückt wird, während Simplizität und umgangssprachliche Wortwahl verwendet wird, wenn sich das Dasein im Lager, das Verhalten der SS, einer komplexeren Ausdrucksweise verschließt.  

 

Schon lange vor der Deportation ins Lager fühlte Imo Moszkowicz, was es bedeutet, einem „Volkeswillen“ ausgesetzt zu sein, der sich an der eigenen beschämenden Situation „mit der Fratze des Hasses weidete“[2]. Eine Kindheit, in der immer die Frage nach dem „Warum?“ dämmerte. Fragen, die im Lager immer wieder erneut hervorbrechen, ohne eine echte Antwort zu ermöglichen, wohl wissend wie absurd die Frage an diesem Ort war. „Warum? War ich anders als andere Kinder? Waren meine Eltern, meine sechs Geschwister, die Mitglieder der Jüdischen Gemeinde, Verbrecher? Was hatten sie getan? Christus ermordet, Hitler nicht gewollt?“[3] Eine Antwort konnte Imo Moszkowicz bis heute nicht finden, es bleibt ihm nur die Erkenntnis, „den Hass als alles zerstörendes Prinzip zu erkennen und […] dass nur ein Leben ohne Hass wirkliches Leben ist.“ [4]  a 

 

Das Dasein im Lager erscheint als eine Frist ohne Gnade. „Der Tod war beschlossen, und der Aufschub hatte nichts mehr mit dem zu tun, was man gemeinhin Leben nennt.“[5]  b  Nach der Uniformierung durch die Rasur am ganzen Körper und dem Eintätowieren der Nummer als neues Ich ist von den Menschen, die die jetzigen Häftlinge noch während der Deportation waren, nichts mehr zu spüren. „Bis zur Lächerlichkeit degradiert, aller Menschenwürde beraubt, standen wir frierend in dem Schlamm vor der Waschkaue.“[6] In dieser „riesigen Todeszelle“ Auschwitz verliert der Jugendliche Moszkowicz „zwischen elektrisch geladenen Zäunen und durchgeladenen Gewehren mit aufgepflanzten Bajonetten“[7] seinen Gott, seine „Jüdischkeit“. „Für immer und ewig.“[8]  c  

 

Die Befreiung ist für Imo Moszkowicz nur eine physische, denn „[d]as Gefühl frei zu sein, stellte sich nicht ein, viel eher schon eine Art Angst, von einem merkwürdigen Gefühl des plötzlichen Verlassenseins diktiert.“[9] Als er den elenden Zug der gebeugten und gedemütigten Kriegsgefangenen, die „primitiven Vogelscheuchen“ gleichen, durch das befreite Liberec ziehen sieht, kann er kein Rachegefühl in sich spüren, er „spürte die Verzweiflung der Gefangenen“ und ihm „war übel“.[10]  f  

 

Bei dem Versuch, sich an die Zeit, bevor er nach Auschwitz kam, zu erinnern, beginnt sich sein Erinnerungsvermögen zu sperren. Sein Unterbewusstsein wird zum Selbstschutz, signalisiert ihm, dass er „…der brutalen Wahrheit nicht in die grinsende Fratze sehen sollte.“[11] Es ist die Wahrheit, dass seine Familie ermordet wurde. Dass es keine göttliche Rache für das Geschehene gibt, dass „der blassgesichtige Todesengel“[12] Unterscharführer Sommer als Gelähmter, nach versuchtem Suizid im Gerichtssaal Menschlichkeit erfährt, die es in den Gerichtssälen des nationalsozialistischen Deutschland nicht gab. Die Wahrheit, die so unerträglich ist, dass er nicht in den Frankfurter Auschwitz-Prozessen aussagt, unfähig die psychische Belastung zu ertragen, wie er in einem Brief an die Staatsanwaltschaft schrieb.

(LG)



Literatur

Moszkowicz, Imo: Der grauende Morgen. Eine Autobiographie. München: Knaur 1998.

[1] Imo Moszkowicz: Der grauende Morgen. Eine Autobiographie. München: Knaur 1998, S. 16.

[2] Moszkowicz: Morgen, S. 18.

[3] Moszkowicz: Morgen, S. 18.

[4] Moszkowicz: Morgen, S. 18.

[5] Moszkowicz: Morgen, S. 112.

[6] Moszkowicz: Morgen, S. 110.

[7] Moszkowicz: Morgen, S. 194–195.

[8] Moszkowicz: Morgen, S. 195.

[9] Moszkowicz: Morgen, S. 188.

[10] Moszkowicz: Morgen, S. 189.

[11] Moszkowicz: Morgen, S. 192.

[12] Moszkowicz: Morgen, S. 14.