Glossar

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Die Rolle der deutschen Chemieindustrie im Ersten Weltkrieg

Mit Beginn des Ersten Weltkrieges am 1. August 1914 stand die chemische Industrie Deutschlands vor bedeutsamen Veränderungen. Zum einen konnte sie wesentliche benötigte Rohstoffe nicht mehr importieren, zum anderen verlegten die Unternehmen ihre Aktivität verstärkt auf die Rüstungsproduktion. Mit Beginn des Stellungskriegs an der Westfront im September 1914 zeigte sich, dass Deutschland nicht auf einen länger andauernden Krieg vorbereitet war und keine Rohstoffreserven besaß. Vor allem Salpeter, der zum größten Teil aus Chile bezogen werden musste, wurde knapp, da Deutschland von jeglichem Warenimport abgeschnitten war. Da Salpeter sowohl für die Produktion von Sprengstoffen und Munition als auch von Düngemitteln unerlässlich war, musste eine Lösung gefunden werden, den Mangel zu beheben.

 

Ende September 1914 trafen sich Carl Bosch, der stellvertretende Direktor der BASF, und Vertreter des Kriegsministeriums mit dem Ziel, eine Lösung für den Mangel an Salpeter zu finden. Angestrebt wurde die Entwicklung eines Verfahrens zur industriellen Gewinnung von Salpetersäure aus synthetischem Ammoniak. Bosch gab der Obersten Heeresleitung die Zusage, ein Verfahren zur Oxydation von Ammoniak zu Salpetersäure in industriellem Ausmaß zu realisieren, das sogenannte „Salpeterversprechen“. Diese Zusage bedeutete für die chemische Industrie den Einstieg in die Rüstungsindustrie.

 

Das Werk in Oppau, das 1913 die Produktion von synthetischem Ammoniak für Düngemittel aufgenommen hatte, sollte nun auch Salpetersäure produzieren. Um dies reibungslos zu ermöglichen, war angesichts des steigenden Personalmangels vorgesehen, bereits eingezogenes Personal für den Umbau des Werks und die Produktion vom Militärdienst freizustellen. Im Werk Oppau wurde 1915 mit der Umwandlung von Stickstoff in Salpetersäure begonnen. Da jedoch der sehr hohe militärische Bedarf nicht gedeckt werden konnte, baute die BASF 1916 ein zweites Werk in Leuna. Bosch beauftragte den Oppauer Betriebsleiter Carl Krauch mit der Leitung der Baumaßnahmen. Im April 1917 begann das Werk in Leuna mit der Produktion, beide Werke produzierten in diesem Jahr gemeinsam ca. 90.000 Tonnen Stickstoff, die fast ausschließlich für die Munitionsherstellung verwendet wurden. Die Werke waren auf Kriegszwecke ausgerichtet, in Friedenszeiten bedeutete ihre Größe Überkapazitäten.

 

Im Herbst 1914 wurde nach einem Vorschlag von Major Max Bauer vom Kriegsministerium eine Kommission ins Leben gerufen, die sich mit der Nutzung der giftigen Abfallstoffe in der Farbenindustrie für Kampfhandlungen beschäftigen sollte. Diese unterstand der Leitung von Carl Duisberg (Bayer) und Walter Nernst (Chemieprofessor an der Universität Berlin). Fritz Haber, Leiter der Chemieabteilung der Rohstoffbehörde im preußischen Kriegsministerium und ab 1912 Direktor des Kaiser Wilhelm-Instituts für physikalische Chemie und Elektrochemie in Berlin-Dahlem, schlug der Heeresleitung die Nutzung von Chlorgas für militärische Zwecke vor, wobei wissentlich gegen die Haager Landkriegsordnung verstoßen wurde, die den Einsatz von Giftgas verbietet.

 

Der erste Einsatz von Chlorgas durch das deutsche Heer erfolgte am 22. April 1915 im belgischen Ypres. Bei diesem Angriff gab es schätzungsweise 2.000 bis 3.000 Gasverletzte und 800 bis 1.400 Tote. Über die Opfer der Gaswaffen bis zum Kriegsende gibt es verschiedene Schätzungen. Während über eine halbe Million gasverletzte Soldaten und 15.000 bis 20.000 Tote unter den Truppen Deutschlands, Englands, Frankreichs und der USA für die Jahre 1914–1918 als relativ gesichert gelten können, sind die Angaben zu den Verlusten der italienischen, der österreichisch-ungarischen und vor allem der russischen Soldaten wesentlich unsicherer. Allein unter den russischen Soldaten gab es vermutlich über eine halbe Million Gasopfer, von denen wegen der schlechteren Schutzausrüstung wahrscheinlich 10%, also weitere 50.000 bis 60.000 starben. Die zivilen Opfer und die Spätfolgen für die an den Gasverletzungen leidenden Soldaten wurden in keiner der überlieferten Statistiken erfasst.

 

Unter Duisbergs Leitung wurden bei Bayer weitere Kampfstoffe entwickelt: Phosgen, das giftiger war als Chlorgas und mit farbig markierten Geschossen, sog. „Grünkreuz“-Granaten, verschossen wurde, und später Senfgas. Die BASF betätigte sich dabei als Hauptlieferant für Phosgen und lieferte außerdem Zwischenprodukte zur Herstellung von Senfgas. Die sogenannten „Blaukreuz“-Granaten enthielten ein Gas, das zu Erbrechen und Reizung der Atemwege führte, so dass die Soldaten ihre Gasmasken abnehmen mussten und dann das gleichzeitig abgeschossene tödliche Senf- oder Chlorgas einatmeten. Die chemische Industrie arbeitete ständig an der „Optimierung“ des Einsatzes von Giftgas: Chlorgas wurde beispielsweise erst auf den Gegner geblasen, später dann mit Gasgranaten verschossen.

 

Die Abhängigkeit der kriegführenden Reichsregierung von der Chemieindustrie stärkte deren Einfluss auf die Politik. Carl Duisberg traf sich im September 1916 mit den Generälen Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff, um über die Rüstungsproduktion und den Mangel an Arbeitskräften zu sprechen. Er regte an, den Arbeitskräftemangel mit Zwangsarbeiter/innen aus Belgien zu beheben; das Reichsamt des Inneren griff den Vorschlag auf. Außerdem sollten Zwangsarbeiter/innen aus Polen in Deutschland arbeiten. 1916 wurden ca. 60.000 Belgier/innen nach Deutschland deportiert, was international zu Protesten führte. Aufgrund des internationalen Drucks und weil die Belgier/innen sich weigerten, unter Zwang zu arbeiten, wurde ihre Rückkehr nach Belgien möglich.

 

Zusammenfassend lässt sich eine komplexe Zusammenarbeit von Industrie, Militär und Wissenschaft in der Entwicklung verschiedener Giftgase zu Kriegszwecken feststellen. Die deutsche Chemieindustrie wirkte ferner auf den Verlauf des Krieges ein: sie ermöglichte seine Fortsetzung, indem sie natürliche Rohstoffe, die zur Munitionsproduktion benötigt wurden, durch synthetische ersetzte und immer neue Giftgaswaffen entwickelte. Die Kooperation mit Politik und Militär schlug sich für die Unternehmen in hohen Gewinnen nieder.

(DOP; erstellt auf der Grundlage von Karl Heinz Roth: Die Geschichte der I.G. Farbenindustrie AG von der Gründung bis zum Ende der Weimarer Republik)



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[pdf] Karl Heinz Roth_Die Geschichte der IG Farbenindustrie AG von der Gründung bis zum Ende der Weimarer Republik 

   

Literatur

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