Glossar

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Elie Wiesels ‚Kommentarromane‘ zu seinem Zeugenbericht

 a  „Written between 1955 and 1960, these three narratives were created separately. Though the first is a testimony, the other two serve only as commentaries. However, they are all written in the first person. In ‘Night,’ it is the ‘I’ who speaks; in the other two, it is the ‘I’ who listens and questions.“

(Elie Wiesel: Night / Dawn / Day. Northvale, NJ/London: Aronson 1987, S. 3.)

Nach seinem Zeugenbericht La Nuit (1958, dt. Nacht, 1962) schrieb Elie Wiesel zwei Romane, L’aube (1960, dt. Morgengrauen, 1962) und Le jour (1961, dt. Tag, 1962), die sich beide mit der Situation des Überlebenden beschäftigen, den immer wieder seine Erinnerungen, seine Prägungen durch Auschwitz, in gegenwärtigen Situationen heimsuchen. Nicht nur die Tageszeitenfolge der Titel, sondern auch, dass sie später als Trilogie in einem Band erschienen, verweist auf eine Zusammengehörigkeit. Allerdings bilden sie nicht eine „weitgehend autobiografische Trilogie“[1], die eine durchgängige Hauptperson habe,[2] wie der Verlag der deutschen Ausgabe behauptet, die zudem den irreführenden Titel Die Nacht zu begraben, Elischa trägt. Vielmehr verbindet die beiden Romane mit Nacht eine existentielle Krise der jeweiligen Hauptfigur auf Grund des in Auschwitz Erlebten im Verhältnis zur gegenwärtigen Situation des Romans, die zu Auseinandersetzungen darüber führt, welche Art zu leben und damit welches Verhalten, moralisch, im sozialen Umgang, nach Auschwitz möglich sein könne. Die beiden Romane der Nachkriegszeit lassen sich insofern als ‚Kommentarromane‘ zu Wiesels Zeugenbericht bezeichnen und lesen.  a 

 

In der Tat sind beide sehr stark auf die Gefühle und Empfindungen, die Selbstzweifel und Fragen des jeweiligen Ich-Erzählers konzentriert. In Morgengrauen ist Elischa Mitglied einer jüdischen Untergrundbewegung im Britischen Mandatsgebiet Palästina. Die Gruppe hat einen britischen Offizier als Geisel genommen, der im Morgengrauen erschossen werden soll, zur selben Zeit, da einer der ihren, der von der Mandatsmacht zum Tode verurteilt wurde, hingerichtet werden soll. Damit soll den Briten und der Welt bewiesen werden, dass die Juden in Palästina sich nicht länger als Opfer zu verhalten bereit seien, sondern sich wehren würden. Elischa soll die Erschießung durchführen. Die ganze Nacht über kämpft er mit sich, was er tun, ob er töten soll, was dies mit ihm tun, wie ihn verändern werde. Dabei suchen ihn zahlreiche in Auschwitz ermordete Angehörige und Freunde aus seiner Stadt als Geister heim, begleiten ihn, darunter ein 15-jähriger Junge – Elischa selbst in Auschwitz, oder sein in Auschwitz gebliebener Schatten. Dieser lässt sich auch als das am Ende von Nacht stehende Bild im Spiegel verstehen, als Eliezer sich selbst als den Toten sieht, der er auch hätte sein können.

 

Wie sich Morgengrauen mit der Möglichkeit eines Umgangs mit dem Tod, dem Töten, nach Auschwitz auseinandersetzt, ließe sich Tag als literarischer Kommentar zur Möglichkeit oder Unmöglichkeit eines Umgangs mit dem Leben, und damit der Liebe, lesen. Hier hatte der Ich-Erzähler einen schweren Unfall, er liegt im Krankenhaus und muss versuchen, zu akzeptieren, dass er gerettet wurde, denn, was alle für einen Unfall halten, war ein Selbstmordversuch. Auch in diesem Roman hängen die Gedanken des Ich-Erzählers an den Opfern von Auschwitz, an Menschen, die er dort verlor – seine Mutter Sarah und Großmutter Nissel –, und an einer jungen Überlebenden, Sarah, die er nach dem Krieg in Paris traf. Doch vor allem steht er vor dem Versuch, sich auf die Liebe einer Frau, Kathleen, einzulassen. Dabei hat die Frau in der ‚einsamer Mann‘-Welt des Elie Wiesel allein die Funktion einer heilenden Kraft, einer möglichen Erfüllung des männlichen Wunsches nach Leben. Sie steht dem Spiegelbild des Ich-Erzählers entgegen, das sowohl in Nacht als auch in Morgengrauen als Bild der Nacht, des Todes, im Raum steht. Die liebende Frau ermöglicht die Überwindung der Nacht.

 

Beide Romane bieten – wie es in anderer Form auch spätere Romane Wiesels tun – Reflektionen auf die Veränderungen und auf existentielle Situationen an, mit denen sich der Überlebende nach der Befreiung aus dem Lager, in dessen Schattenwelt er doch gefangenbleibt, konfrontiert sieht und zu denen er sich verhalten muss. Die Stärke des ‚Kommentarromans‘ gegenüber einem nicht romanhaften Kommentar tritt in der Offenheit der beiden Texte zu diesen Fragen nach dem ‚richtigen‘ Verhalten zutage, in ihrer Art, Denkbilder für die Leser/innen vorzustellen.

(MN)



Literatur

Wiesel Elie: La Nuit… L’Aube. Le Jour. Paris: Seuil 1969.

Wiesel, Elie: Night / Dawn / Day. Northvale, NJ/London: Aronson 1987.

Wiesel, Elie: Die Nacht zu begraben, Elischa [1962]. München: LangenMüller 2005.

http://www.herbig.net/gesamtverzeichnis/belletristik/romane/einzelansicht/product/finden-2/die-nacht-zu-begraben-elischa/elie%20wiesel.html (Zugriff am 9.9.2008).

[1] http://www.herbig.net/gesamtverzeichnis/belletristik/romane/einzelansicht/product/finden-2/die-nacht-zu-begraben-elischa/elie%20wiesel.html (Zugriff am 9.9.2008). Der LangenMüller-Verlag versteigt sich zudem in seiner Kurzbeschreibung des Buches zu einer Gleichsetzung jüdischer Untergrundgruppen in Palästina vor der israelischen Staatsgründung mit den Nationalsozialisten: „Fünfzehnjährig wird Elischa mit seiner Familie und Freunden nach Auschwitz und Buchenwald gebracht. Er allein überlebt diese schreckliche Zeit. Nach Kriegsende steht er auf der anderen Seite: in Palästina, als Mitglied einer jüdischen Terrorgruppe.“ (Ebda.)

[2] Auch wenn Tag in einem Unfall Wiesels einen autobiographischen Hintergrund hat, so wäre es doch verkehrt, ihn als Autobiographie zu lesen. Vollkommen abwegig ist dies bei Morgengrauen, ebenso, wie eine Identität der Ich-Erzähler in den beiden Romanen zu behaupten.