Glossar

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Elie Wiesels Zeugenberichte – Erinnerung und literarische Gestaltung

 a  „Que le rôle du survivant soit de témoigner, j’en étais conscient. Seulement j’ignorais comment m’y prendre. Je manquais d’expérience, de repères. Je me méfiais des outils, des procédés. Fallait-il tout dire ou tout taire ? Hurler ou murmurer ? Mettre l’accent sur les absents ou sur leurs héritiers ? Comment décrit-on l’indicible ? Comment fait-on pour faire revivre, avec pudeur, la chute des hommes et l’éclipse des dieux ? Et puis, comment être sûr que les mots, une fois lâchés, ne vont pas trahir, déformer le message dont ils étaient porteurs ?

Si lourde était mon angoisse que je fis un vœu : ne rien dire, ne pas toucher à l’essentiel pendant dix ans au moins. Le temps de voir clair. Le temps d’apprendre à écouter les voix qui crient à travers la mienne. Le temps de reprendre possession de ma mémoire pour unir le langage des hommes au silence des morts.“

(Elie Wiesel: Une Interview par comme les autres. In: Ders.: Un juif aujourd’hui. Paris: Seuil 1977, S. 25–31, hier S. 26.)

 

 b  „I spent most of the voyage in my cabin working. I was writing my account of the concentration camp years—in Yiddish. I wrote feverishly, breathlessly, without rereading. I wrote to testify, to stop the dead from dying, to justify my own survival. I wrote to speak to those who were gone. As long as I spoke to them, they would live on, at least in my memory. My vow of silence would soon be fulfilled; next year would mark the tenth anniversary of my liberation. I was going to have to open the gates of memory, to break the silence while safeguarding it.“

(Wiesel, Elie: All Rivers Run to the Sea. Memoirs, Vol. One 1928–1969. London: HarperCollins 1996, S. 239–240.)

 

 c  „Zehn Tage, zehn Nächte Reise. Manchmal, meist morgens, fuhren wir durch deutsche Ortschaften. Arbeiter blieben auf dem Weg zur Arbeit stehen und blickten uns kaum verwundert nach.

Als wir einmal anhielten, zog ein Arbeiter ein Stück Brot aus seinem Brotbeutel und warf es in einen Wagen, was einen Aufruhr verursachte. Dutzende von Ausgehungerten brachten sich gegenseitig für ein paar Krumen um. Gebannt schauten die deutschen Arbeiter diesem Schauspiel zu.

Jahre später wohnte ich in Aden einem ähnlichen Schauspiel bei. Die Passagiere unseres Schiffes belustigten sich damit, den Eingeborenen Münzen ins Wasser zu werfen, nach denen diese tauchten. Eine aristokratisch aussehende Pariserin empfand besonderes Vergnügen bei diesem Spiel. Plötzlich sah ich zwei Kinder, die sich auf Leben und Tod balgten, wobei das eine das andere zu erdrosseln suchte.

‚Ich flehe Sie an, gnädige Frau, werfen Sie keine Münze mehr hinunter!‘ bat ich die Dame.

‚Warum denn nicht?‘ antwortete sie. ‚Ich tue gern Gutes.‘

In den Viehwagen, in den das Stück Brot gefallen war, entstand eine wahre Schlacht. Man stürzte aufeinander los, trat, zerfleischte und zerbiss sich gegenseitig – entfesselte Raubtiere mit hassverzerrtem Blick, denen eine plötzliche, ungewöhnliche Lebenskraft Zähne und Klauen gewetzt hatte.

Eine Schar von Arbeitern und Gaffern lief am Zug zusammen. Vermutlich hatten sie noch nie einen derartigen Güterzug gesehen. Bald flogen an vielen Stellen Brotstücke in die Waggons, und die Zuschauer schauten den ausgemergelten Gestalten zu, die wegen eines Bissen Brotes einander den Garaus machten.“

(Elie Wiesel: Die Nacht. Erinnerung und Zeugnis [1962]. Mit einer Vorrede von François Mauriac. Freiburg: Herder 1996, S. 138–139.)

 

 d  „In der dritten Nacht, während wir sitzend und stehend, aneinander gelehnt, schliefen, durchdrang ein schriller Schrei die Stille:

Ein Feuer! Ich sehe ein Feuer! Ich sehe ein Feuer!

Es entstand eine Panik. Wer hatte geschrien? Frau Schächter. Mitten im Waggon, im bleichen Schimmer, der durch die Fenster fiel, glich sie einem verdorrten Baum in einem Kornfeld. Kreischend deutete sie auf das Fenster:

Seht! Seht doch! Das Feuer! Ein schreckliches Feuer! Habt Mitleid mit mir, das Feuer!

Männer pressten die Gesichter gegen die Stäbe. Es war nichts zu sehen, nur Nacht.

Lange lastete der Schock dieses schrecklichen Erwachens auf uns. Wir zitterten. Bei jedem Kreischen der Räder auf den Schienen schien es, als gähne ein Abgrund unter unseren Füßen. Unfähig, unsere Angst zu betäuben, suchten wir uns damit zu trösten, dass wir sagten: Sie ist verrückt, die Arme. Um sie zu beruhigen, hatte man ihr ein feuchtes Tuch auf die Stirn gelegt. Trotzdem gellte sie weiter: Das Feuer! Das Feuer!

(Elie Wiesel: Die Nacht. Erinnerung und Zeugnis. Freiburg: Herder 1996, S. 44.)

 

 e  Eine kritische Einschätzung dieses Diskurses der Unsagbarkeit gibt Naomi Seidman: „What remains outside of this proliferating discourse on the unsayable is not what cannot be spoken but what cannot be spoken in French. And this is not the ‘silence of the dead’ but rather the scandal of the living, the scandal of Jewish rage and unwillingness to embody suffering and victimization.“

(Naomi Seidman: Elie Wiesel and the Scandal of Jewish Rage. In: Jewish Social Studies 3 (1996), H. 1, S. 1–19, hier S. 8.)

 

 f  „Jetzt, zehn Jahre nach Buchenwald, sehe ich, dass die Welt vergisst. Deutschland ist ein souveräner Staat. Die deutsche Armee ist auferstanden von den Toten. Ilse Koch, die hündische Froh-Sadistin von Buchenwald, hat Kinder und ist glücklich. Kriegsverbrecher gehen in den Straßen von Hamburg und München spazieren. Die Vergangenheit wird fortgewischt. Vergessen.“

(Eliezer Wiesel: ... און די וועלט האָט געשוויגן [Und die Welt hat geschwiegen]. Buenos Aires: Union Central Israelita Polaca en la Argentina 1956, S. 245.) (Übers. MN)

In Essais und auch in seiner Autobiographie schreibt Elie Wiesel davon, dass er sich 1945 nach der Befreiung geschworen habe, er werde zehn Jahre schweigen, um sicher zu gehen, dass, was er sagen werde, wahr sein werde, – und um in dieser Zeit die Sprache der Menschen mit dem Schweigen der Toten zu verbinden.  a  1954, auf einer Schiffsüberfahrt von Frankreich nach Brasilien, schrieb er seine Erinnerungen auf, „to testify, to stop the dead from dying, to justify my own survival.“[1]  b  Diese in Jiddisch verfassten Aufzeichnungen gab er in Buenos Aires dem Verleger Mark Turkow, der sie 1956 unter dem Titel ... און די וועלט האָט געשוויגן (…und die Welt hat geschwiegen) veröffentlichte. Wiesel überarbeitete seinen Bericht und kürzte ihn stark für die französische Fassung, die mit Unterstützung von François Mauriac, der auch das Vorwort schrieb, unter dem Titel La Nuit bei Éditions de Minuit 1958 (dt. Nacht[2], 1962) veröffentlicht wurde. Diese Ausgabe wurde die Grundlage zahlreicher Übersetzungen und der internationalen, aber vor allem US-amerikanischen Rezeption von Elie Wiesels Geschichte und begründete die öffentliche Bedeutung seiner Person. Interessanterweise gibt der jiddische Bericht eine andere Version von Elie Wiesels Umgang mit seinen Erinnerungen direkt nach der Befreiung: „Ich bin noch einige Tage im Bett geblieben [in Buchenwald im Krankenbau], während derer ich die Skizze des Buches aufgeschrieben habe, das Du in der Hand hältst, teurer Leser.“[3]

 

Der jiddische Bericht erschien als 117. Band der Reihe דאָס פּוילישע יידנטום (Das polnische Judentum), in der schon mehrere andere Überlebensberichte erschienen waren. Er ordnete sich so in das bereits bestehende Genre jiddischer Holocaust-Berichte ein, das einen großen Wert auf das Dokumentierende, auf historische Details und die Namensnennung von Opfern des Holocaust legte. Die französische Ausgabe hingegen spricht ohne diesen Genre-Hintergrund zu einem zumeist christlichen Publikum, das Dokumentarische tritt hier gegenüber dem Literarischen zurück.[4] So wurde, in Naomi Seidmans Worten, aus einem „Yiddish documentary testimony“ ein „mytho-poetic narrative“ des Holocaust, das eine starke literarische Wirkung entfaltet.[5]

 

Der jiddische Bericht gliedert sich in acht Kapitel, an deren Beginn Ausführungen zur historischen Situation in Sighet, Transsylvanien, zur Zeit des Einmarschs der deutschen Truppen und damit des Beginns der Deportationen stehen, sowie zur Fehleinschätzung der Lage durch die jüdische Bevölkerung. Die Bilder der Deportation haben sich tief in das Gedächtnis des Erzählers eingegraben, wie dieser erklärt. Im Gegensatz dazu beginnt die Erzählung in Nacht viel unvermittelter, indem die Figur des Gemeindedieners Moshe eingeführt wird, der Familie Wiesel warnt, aber nicht ernst genommen wird. Nacht besteht aus vielen recht kurzen Erzählabschnitten, die durch Leerzeilen – Momente des Schweigens – voneinander getrennt sind, und so eindrückliche Szenen herstellen, die auf das von Eliezer, dem Ich-Erzähler, erlebte, auf Bilder und Handlungen konzentriert sind. Wiesel schafft so viele kurze eindrückliche Szenen, anstatt das Geschehende selbst ausführlich zu interpretieren oder zu kontextualisieren; das Dargestellte spricht in der Form seiner Darstellung ‚für sich selbst‘. Nur gelegentlich durchbrechen Reflexionen aus der retrospektiven Perspektive des Erzählers die als unmittelbar vorgestellte Gedankenwelt Eliezers.  c 

 

So erfährt man von der Deportation von Sighet nach Auschwitz, von zahlreichen Geschehnissen und Aspekten des Lagerlebens im KZ Buna/Monowitz, in das Eliezer und sein Vater nach der Selektion in Auschwitz von der SS geschickt werden, vom Todesmarsch, auf den sie getrieben werden, und schließlich von des Vaters Tod im KZ Buchenwald. Dabei gestaltet Wiesel literarische Bilder, wie z.B. Frau Schächters Vision eines Feuerscheins im Deportationszug  d , die an die Rezeptionsgewohnheiten der Leser/innen bei der Lektüre erzählender Literatur anschließen, um neben dem konkret Erzählten weitere Verstehensmöglichkeiten nahezulegen, seien diese auf den Fortgang der Handlung als schicksalhaft vorausbestimmtes Geschehen, wie im Fall der mythisch anmutenden Vision des Feuers, oder auf einen über den vorliegenden Text hinausreichenden kulturellen und theologischen Bezugs- und Interpretationsrahmen gerichtet. Nacht geht so über die unmittelbare persönliche Absicht eines Überlebenden, von seiner Geschichte Zeugnis abzulegen, hinaus. In die Erinnerung der Leser/innen prägen sich literarische Bilder ein, die zu einer Reflektion über die Bedeutung des Holocaust für das Leben aller auffordern – nicht nur des einen Überlebenden, der hier berichtet. Zugleich betont Wiesel in Nacht immer wieder die Bedeutung des Schweigens, einer Bewahrung dessen, was an Auschwitz unsagbar sei. Die so und vor allem auch in späteren Schriften Wiesels entstehende Mystifizierung von Auschwitz wurde und wird durchaus kritisch gesehen.  e 

 

Die literarische Umgestaltung des ursprünglichen Berichts zu Nacht wird beim Vergleich der beiden Fassungen der abschließenden Szene von Wiesels Zeugenbericht deutlich: In den Tagen nach der Befreiung von Buchenwald erkrankt Eliezer an einer Lebensmittelvergiftung und schwebt zwei Wochen zwischen Leben und Tod. Mit letzter Kraft steht er auf, blickt in den Spiegel und erblickt ein Skelett. „Ich habe das Bild meiner selbst nach meinem Tod gesehen. In dem Moment ist in mir der Wille erwacht, zu leben.“[6] Eliezer zerschlägt den Spiegel, bricht zusammen, aber nun gesundet er, obwohl die Ärzte ihn schon aufgegeben hatten. Abschließend äußert der Erzähler seine Wut darüber, dass die Welt den Holocaust schon vergisst, die deutschen Täter leben können, als wäre nichts gewesen  f , und zweifelt an der Möglichkeit, durch einen Überlebendenbericht daran etwas zu ändern. Während der jiddische Eliezer mit seiner Vergangenheit bricht, um zu leben, heißt es in Nacht:

 

„Aus dem Spiegel blickte mich ein Leichnam an.

Sein Blick verläßt mich nicht mehr.“[7]

 

Dies sind zugleich die letzten Sätze des Buches. Der Erzähler entlässt die Leser/innen mit dem Bild des Toten, der Eliezer auch hätte sein können, und verweist damit auf die vielen, die nicht gerettet wurden. Die Toten von Auschwitz lassen offene Fragen an die Gegenwart zurück, wie die Toten die Erinnerung des Überlebenden nicht verlassen. Nacht schließt nicht mit einem Bericht darüber, was Eliezer nach der Befreiung geschah, wie es viele Überlebendenberichte tun; der Text bietet kein ‚nach der Befreiung‘ an, sondern erzeugt ein starkes literarisches Bild, das auf die Leser/innen, auf ihre sekundäre Erinnerung an den Holocaust, wie er von Wiesel dargestellt wird, einwirken soll. Die Literarisierung seines Überlebensberichtes tut seinem Wahrheitsgehalt keinerlei Abbruch, vielmehr scheint dessen Wirkung und weitreichende Rezeption gerade von der literarischen Gestaltung dessen, wovon Eliezer in Auschwitz und Buchenwald Zeuge wird, auszugehen.

(MN)



Literatur

Renz, Werner: Elie Wiesel neu übersetzen. In: Newsletter zur Geschichte und Wirkung des Holocaust. Informationen des Fritz Bauer Instituts 33 (2008), S.  84.

Seidman, Naomi: Elie Wiesel and the Scandal of Jewish Rage. In: Jewish Social Studies 3 (1996), H. 1, S. 1–19.

Wiesel, Eliezer: ... און די וועלט האָט געשוויגן […und die Welt hat geschwiegen]. Buenos Aires: Union Central Israelita Polaca en la Argentina 1956.

Wiesel, Elie: La Nuit. Préface de François Mauriac. Paris: Minuit 1958.

Wiesel, Elie: Die Nacht. Erinnerung und Zeugnis [1962]. Mit einer Vorrede von François Mauriac. Freiburg: Herder 1996.

Wiesel, Elie: Une Interview par comme les autres. In: Ders.: Un juif aujourd’hui. Paris: Seuil 1977, S. 25–31.

Wiesel, Elie: Tous les fleuves vont à la mer. Mémoires Vol. 1. Paris: Seuil 1994.

Wiesel, Elie: All Rivers Run to the Sea. Memoirs, Vol. One 1928–1969. London: HarperCollins 1996.

Wiesel, Elie: Alle Flüsse fließen ins Meer. Autobiographie. Hamburg: Hoffmann und Campe 1995.

Wiesel, Elie: „Et la mer n’est pas remplie…“. Mémoires Vol. 2. Paris: Seuil 1996.

Wiesel, Elie: And the Sea Is Never Full. Memoirs, 1969– . New York: Alfred A. Knopf 1999.

Wiesel, Elie: …und das Meer wird nicht voll. Autobiographie 1969–1996. Hamburg: Hoffmann und Campe 1997.

[1] Elie Wiesel: All Rivers Run to the Sea. Memoirs, Vol. One 1928–1969. London: HarperCollins 1996, S. 239.

[2] Zu den Unzulänglichkeiten der deutschen Übersetzung s. Werner Renz: Elie Wiesel neu übersetzen. In: Newsletter zur Geschichte und Wirkung des Holocaust. Informationen des Fritz Bauer Instituts 33 (2008), S. 84.

[3] Wiesel, Eliezer: ... און די וועלט האָט געשוויגן […und die Welt hat geschwiegen]. Buenos Aires: Union Central Israelita Polaca en la Argentina 1956, S. 245. (Übersetzung MN)

[4] Eine Änderung erfuhr auch die Widmung. Während Nacht „Dem Gedenken meiner Eltern und meiner kleinen Schwester, Tsipora“ gewidmet ist, steht dem jiddischen Bericht voran: „Das Buch ist gewidmet dem ewigen Andenken meiner Mutter Sarah, meines Vaters Shlomo und meiner kleinen Schwester Tzipora – die umgebracht wurden von den deutschen Mördern.“

[5] Naomi Seidman: Elie Wiesel and the Scandal of Jewish Rage. In: Jewish Social Studies 3 (1996), H. 1, S. 1–19, hier S. 5.

[6] Wiesel: און די וועלט, S. 244.

[7] Elie Wiesel: Die Nacht. Erinnerung und Zeugnis [1962]. Mit einer Vorrede von François Mauriac. Freiburg: Herder 1996, S. 157.