Glossar

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Jean Améry (Hans Maier) (1912–1978)

 a  „Ich arbeite seit einigen Wochen als sogenannter Schreiber im Büro eines im Bau befindlichen I.G. Farben-Werkes. Nach wie vor bin ich natürlich ein ganz gewöhnlicher K.L.-Häftling, muß stundenlang am Appellplatz stehen, bekomme 200 Gramm Brot und zwei Wassersuppen am Tag und unterscheide mich auch im äußeren Habitus nicht von meinen Genossen, die Zementsäcke schleppen oder Kohle verladen. Es war nur so gewesen, dass unter den etwa 1000 Angestellten des Werkes sich nur wenige befunden hatten, die der deutschen Orthographie mächtig waren.“

(Jean Améry, zit. n. Irene Heidelberger-Leonard: Jean Améry. Revolte in der Resignation. Stuttgart: Klett-Cotta 2004, S. 90.)

Jean Améry wurde am 31. Oktober 1912 in Wien als Hans Maier geboren. Er nannte sich nach 1945 Jean Améry. Die Eltern Paul und Valerie Maier (geb. Goldschmidt) waren jüdischer Herkunft. 1917 fiel der Vater als k.u.k-Soldat im Ersten Weltkrieg. Améry verbrachte einen Teil seiner Kindheit in Bad Ischl. In Wien machte er eine Buchhandelslehre, wurde Mitarbeiter der Volkshochschule Wien und bewegte sich in den literarischen Kreisen der Stadt. 1938 floh Jean Améry mit seiner ersten Frau, Regina, nach Antwerpen. Sie starb während seiner Internierung an einer Herzkrankheit in ihrem Brüsseler Versteck.

 

Nach Internierungen in den Lagern Malines (Mechelen), Camp de Saint-Cyprien und Gurs, floh Améry aus letzterem 1941 in das besetzte Brüssel und schloss sich einer kleinen deutschsprachigen Gruppe innerhalb der belgischen Widerstandsbewegung an. Er wurde am 23. Juli 1943 zusammen mit einer Kameradin beim Flugzettelverteilen von der Gestapo verhaftet und im Auffanglager Breendonck von der SS gefoltert. Der Folterkammer folgte wegen „Zersetzung der Wehrkraft“ eine dreimonatige Einzelhaft. Über das Sammellager Malines (Mechelen) wurde Améry nach Auschwitz deportiert, wo er am 17. Januar 1944 eintraf.

 

Améry erhielt die Häftlingsnummer 172364 und wurde einem Arbeitskommando im KZ Buna/Monowitz zugeteilt, ab Juni 1944 war er Schreiber im Buna-Werk.  a  Im Januar 1945 wurde Améry von der SS auf den Todesmarsch gezwungen und über Gleiwitz II nach Mittelbau-Dora deportiert, von dort nach Bergen-Belsen, wo ihn die Britische Armee am 15. April befreite. „Mit fünfundvierzig Kilogramm Lebendgewicht und einem Zebra-Anzug wieder in der Welt“,[1] kehrte Améry nach Brüssel zurück. Er hatte insgesamt 642 Tage in deutschen Konzentrationslagern verbracht, wie er Jahrzehnte später in einem Brief angab.

 

In den Nachkriegsjahren schrieb Améry intensiv für Schweizer Zeitungen. In den 1950er Jahren begann er unter dem Schriftstellernamen Jean Améry zu publizieren. Der 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess 1964 gab den Anstoß zur Niederschrift einer Essay-Folge, in der Améry seine Exil-, Folter- und KZ-Erfahrungen als jüdisches Opfer thematisiert. 1966 erschienen die Essays in Buchform unter dem Titel Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten im Münchener Gerhard Szczesny Verlag. Die Verlage Kiepenheuer & Witsch und Suhrkamp hatten zuvor eine Veröffentlichung abgelehnt. Das Buch erregte im deutschsprachigen Raum großes Aufsehen und machte Améry bekannt. Er publizierte unter anderem für Merkur, Die Zeit, die Frankfurter Rundschau, die Süddeutsche Zeitung. Nahezu alle namhaften Rundfunkanstalten in der BRD sendeten seine Beiträge. Neben seinen Essays, Rezensionen, Glossen und Filmkritiken veröffentlichte Améry auch literarische Texte und philosophische Abhandlungen.

 

Am 17. Oktober 1978 nahm sich Jean Améry in einem Hotel in Salzburg das Leben. Er wurde in einem Ehrengrab auf dem Zentralfriedhof in Wien bestattet.

(GB)



Literatur

Améry, Jean: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. München: Szczesny 1966.

Heidelberger-Leonard, Irene: Jean Améry. Revolte in der Resignation. Stuttgart: Klett-Cotta 2004.

Pfäfflin, Friedrich: Jean Améry – Daten zu einer Biographie. In: Stephan Steiner (Hg.): Jean Améry (Hans Maier). Basel /Frankfurt am Main: Stroemfeld 1996, S. 265–280.

[1] Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. München: Szczesny 1966, S. 74.