Der 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963–1965)
Der 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963–1965), eines der größten bundesdeutschen Verfahren gegen NS-Verbrecher, hat zwei bemerkenswerte Vorgeschichten. Aufgrund einer Anzeige eines Auschwitz-Überlebenden ermittelte die Staatsanwaltschaft Stuttgart seit Anfang März 1958 gegen den späteren Angeklagten Wilhelm Boger, in Auschwitz Angehöriger der Lager-Gestapo (Politische Abteilung). In Frankfurt am Main übersandte ein Mitarbeiter der Frankfurter Rundschau im Januar 1959 an den hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer Originaldokumente, die der Journalist von einem Holocaust-Überlebenden erhalten hatte.
Fritz Bauer, in seinem Bemühen, die NS-Verbrechen juristisch aufzuklären und die NS-Täter zur Verantwortung zu ziehen, führte eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH) in Karlsruhe herbei: Der BGH erklärte das Landgericht Frankfurt am Main in Sachen Auschwitz für zuständig. Das in Stuttgart gegen Boger und andere anhängige Verfahren wurde deshalb nach Frankfurt abgegeben und zwei junge Staatsanwälte, Georg Friedrich Vogel und Joachim Kügler, machten sich seit Mitte 1959 daran, Ermittlungen gegen Auschwitz-Personal einzuleiten. Nach und nach gelang es der Frankfurter Strafverfolgungsbehörde mit Unterstützung von Hermann Langbein (Wien), bis Mitte 1960 Generalsekretär des Internationalen Auschwitz-Komitees, SS-Angehörige von Auschwitz ausfindig zu machen und Auschwitz-Überlebende als Zeugen zu vernehmen. Im April 1963 legte die Staatsanwaltschaft die Anklageschrift vor, im Dezember 1963 begann der Prozess gegen 22 Auschwitz-Täter. 183 Verhandlungstage lang verhandelte das Frankfurter Schwurgericht die gegen die Angeklagten vorgebrachten Tatvorwürfe. Angeklagt waren zwei Adjutanten des Kommandanten (Robert Mulka und Karl Höcker), ein Schutzhaftlagerführer (Franz Hofmann), drei SS-Ärzte (Franz Lucas, Willy Frank, Willi Schatz), ein SS-Apotheker (Victor Capesius), ein Rapportführer (Oswald Kaduk), Angehörige der Lagergestapo/Politische Abteilung (Wilhelm Boger, Pery Broad, Klaus Dylewski, Hans Stark, Johann Schoberth), Sanitätsdienstgrade (Josef Klehr, Emil Hantl, Herbert Scherpe, Gerhard Neubert), zwei Blockführer (Heinrich Bischoff, Stefan Baretzki), ein Arrestaufseher (Bruno Schlage) und ein Angehöriger der Abt. Verwaltung (Arthur Breitwieser). Auch ein Funktionshäftling (Emil Bednarek) stand vor Gericht.
Die beiden Adjutanten waren aufgrund ihrer Stellung in der sogenannten Kommandantur des Lagers für die „Abwicklung“ von RSHA-Transporten zuständig. Mit „Sonderzügen“ der Deutschen Reichsbahn organisierte das SS-Reichssicherheitshauptamt in Berlin (RSHA) die Deportation der europäischen Juden nach Auschwitz. Die Kommandantur von Auschwitz leitete die Befehle an alle Stellen des Lagers weiter, die bei Transportankünften tätig wurden. Die Sanitätsdienstgrade Gerhard Neubert und Emil Hantl waren im Häftlingskrankenbau (HKB) von Buna/Monowitz neben dem jeweiligen SS-Lagerarzt für die HKB-Selektionen verantwortlich. Insbesondere Neubert hatte im Krankenbau von Buna/Monowitz eine maßgebliche Rolle gespielt.
Im Verlauf der Beweisaufnahme wurden 360 Zeugen vernommen, 211 waren Überlebende von Auschwitz. Unter den Opferzeugen waren auch Häftlinge von Buna/Monowitz. Zu nennen sind Ludwig Wörl, Hans Frankenthal, Curt Posener, Erich Markowitsch und Walter Petzold. Zeithistoriker wurden hauptsächlich zu Beginn der Beweisaufnahme als Sachverständige gehört. Die Historiker waren von der Anklagebehörde und von der Nebenklagevertretung benannt worden. Rechtsanwalt Friedrich Karl Kaul, der sechs aus der DDR stammende Nebenkläger vertrat, benannte u.a. den Wirtschaftshistoriker Jürgen Kuczinski (1904–1997) (Humboldt-Universität [Ost-]Berlin), der über die Verflechtung von sicherheitspolizeilichen und wirtschaftlichen Interessen bei der Errichtung und dem Betrieb des Konzentrationslagers Auschwitz und seiner Nebenlager sein Gutachten erstattete und dabei insbesondere auf die Rolle der I.G. Farben einging.
Die Richter verhängten gegen Angeklagte, denen aus Eigeninitiative verübte Morde nachgewiesen werden konnten, lebenslange Zuchthausstrafen. Auch die von der Staatsführung angeordneten Befehlstaten, die Mitwirkung an der Massenvernichtung, legte das Gericht einigen Angeklagten als gemeinschaftlichen Mord zur Last, wenn dem Schwurgericht als zweifelsfrei erwiesen galt, dass der Täter die gemeinsam mit anderen begangenen Mordtaten sich zu eigen gemacht, die befohlene Tat als eigene gewollt hatte. Als Gehilfen (Beihilfe zum Mord) und mit zeitigem Freiheitsentzug wurde bestraft, wer nach Erkenntnis der Tatrichter allein auf Befehl an den Morden mitgewirkt, wer die angeordneten Tötungen als fremde, mithin nicht als eigene Tat, ausgeführt hatte. Die sogenannte Gehilfenrechtsprechung der bundesdeutschen Gerichte in zahlreichen NS-Prozessen rief harsche Kritik und entschiedenen Widerspruch hervor. Viele Angeklagte, an tausendfachem Mord beteiligt, erhielten milde Strafen und kamen nach wenigen Jahren, oft noch vor der Rechtskraft der gefällten Urteile, aus der Haft (Untersuchungshaft) frei.
Der 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess gewann seine überragende justizgeschichtliche Bedeutung durch die im Verfahren geleistete Sachaufklärung. Zahlreiche Besucher verfolgten die Verhandlungstage, insbesondere die Vernehmungen der Opferzeugen. Eine Vielzahl von Journalisten berichtete über den Prozess. Schriftsteller machten das Verfahren zum Gegenstand literarischer Arbeiten.
(WR)