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Luftangriffe auf Auschwitz

„I.G. Farben Complex – Monowice, Poland – '26 June 1944“'Aufnahme der US-amerikanischen Luftaufklärung'© National Archives, Washington, DC
„I.G. Farben Complex – Monowice, Poland –
26 June 1944“
Aufnahme der US-amerikanischen Luftaufklärung
© National Archives, Washington, DC

Der erste Luftangriff alliierter Streitkräfte mit mehreren Flugzeugen auf  I.G. Auschwitz fand in der Nacht vom 4. auf den 5. Mai 1943 statt. Ein Wachturm des KZ Buna/Monowitz wurde mit MG-Feuer beschossen und in der Nähe des Häftlingslagers fielen neun Bomben, ohne Schaden anzurichten. Wahrscheinlich handelte es sich um einen Angriff der Luftwaffe der Roten Armee, da der Aktionsradius britischer und amerikanischer  Bomberverbände 1943 noch nicht bis Auschwitz reichte. Nach ihrer Landung in Süditalien und derEinnahme des Militärflughafens Foggia im Dezember 1943 konnten die Westalliierten Ziele in Ungarn, Rumänien, der Slowakei, Südpolen und Oberschlesien erreichen.

 

Das I.G. Farben-Werk in Auschwitz-Monowitz wurde erstmals am 4. April 1944 bei einem amerikanischen Aufklärungsflug fotografiert. Ƒ Bei der Auswertung der Luftaufnahmen identifizierten Spezialisten der Royal Air Force verschiedene Produktionsanlagen der I.G. Auschwitz als Ziele für die strategische Luftkriegsführung. Weitere Aufklärungsflüge folgten zwischen Ende Mai und Mitte August 1944. Der erste größere Bombenangriff des 15. Geschwaders der U.S. Army Air Force auf die Werksanlagen der I.G. Auschwitz erfolgte am 20. August 1944. Aufgrund des starken Begleitschutzes von 100 Mustang-Jägern wurde von den 127 eingesetzten Bombern des Geschwaders nur ein Flugzeug abgeschossen. Der Angriff richtete beträchtliche Schäden an den Produktionsanlagen der I.G. Auschwitz an. Dem Monowitz-Häftling Adam Szaller gelang während des Luftangriffs die Flucht. Nach Aussage des Monowitz-Häftlings Siegfried Pinkus wurden bei diesem Angriff „ca. 75 Häftlinge getötet und über 150 Häftlinge teils leicht, teils schwer verletzt“[1]. Pinkus machte hierfür die Werksleitung der I.G. Auschwitz mitverantwortlich, weil sie Häftlingen untersagt hatte, in selbstgebauten Unterständen Schutz zu suchen. Trotz der Lebensgefahr begrüßten viele Häftlinge die alliierten Luftangriffe, da sie die SS-Wachmannschaften in Angst versetzten, die Kapazitäten der deutschen Kriegsproduktion verringerten und die erhoffte Befreiung näher brachten.

 

Am 13. September 1944 richteten die Luftangriffe eines Luftgeschwaders von 96 Bombern des Typs Liberator  auf der Baustelle von I.G. Auschwitz schwere Schäden an. Auch das Stammlager und das Lager Auschwitz II (Birkenau) wurden getroffen. Bei diesem Luftangriff wurden schätzungsweise 300 Personen verletzt und getötet, darunter auch SS-Männer. Ein weiterer Luftangriff am 18. Dezember 1944 richtete schwere Schäden an Pumpen- und Kompressorenanlagen der I.G. Auschwitz an. Wie ein alliierter Auswertungsbericht erwähnt, wurden dabei auch fünf Baracken des Konzentrationslagers beschädigt. Der vierte Luftangriff auf I.G. Auschwitz am 26. Dezember 1944 wurde von der alliierten Luftaufklärung aufgrund der starken Schäden am Werk als Erfolg gewertet. Der letzte Angriff der amerikanischen Luftwaffe erfolgte am 19. Januar 1945, einen Tag nach Beginn der Räumung des Lagerkomplexes, als die SS die Häftlinge auf den Todesmarsch in Richtung Westen gezwungen hatte.

 

In den USA und Großbritannien wird seit Ende der 1970er Jahre die Frage kontrovers diskutiert, weshalb die alliierten Luftstreitkräfte nicht die Vernichtungsanlagen oder die Zufahrtsgleise zerstörten, auf denen die Deportationszüge nach Auschwitz rollten, um den Massenmord zu verlangsamen.

(FS)



Quellen

Siegfried Pinkus an US-Militärtribunal Nürnberg, Betr.: Prozeß gegen IG-Farben-Direktoren, 29.8.1947, NI-10820. Nürnberger Dokumente, NI-Serie.

Martin Roßbach, Eidesstattliche Erklärung, 21.1.1948, NI-14287. Archiv des Fritz Bauer Instituts, Nürnberger Nachfolgeprozess Fall VI, ADB 93 (d), Bl. 34–50.

 

Literatur

Brugioni, Dino A. / Poirier, Robert G.: The Holocaust Revisited: A Retrospective Analysis of the Auschwitz-Birkenau Extermination Complex. Washington, D.C.: Central Intelligence Agency 1979.

Czech, Danuta: Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau 1939–1945. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1989.

Erdheim, Stuart G.: Could the Allies Have Bombed Auschwitz-Birkenau? In: Holocaust and Genocide Studies 11 (1997), H. 2, S. 129–170.

Gilbert, Martin: Auschwitz und die Alliierten. München: Beck 1982.

Hilberg, Raul: Die Vernichtung der europäischen Juden. Frankfurt am Main: Fischer 1990.

Neufeld, Michael J. / Berenbaum, Michael (Hg.): The Bombing of Auschwitz. Should the Allies Have Attempted It? New York: St. Martin’s 1999.

Westermann, Edward B.: The Royal Air Force and the Bombing of Auschwitz: First Deliberations, January 1941. In: Holocaust and Genocide Studies 15 (2001), H. 2, S. 70–85.

White, Joseph Robert: Target Auschwitz. Historical and Hypothetical German Responses to Allied Attack. In: Holocaust and Genocide Studies 16 (2002), H. 1, S. 54–76.

Wyman, David S.: Das unerwünschte Volk: Amerika und die Vernichtung der europäischen Juden. Ismaning bei München: Hueber 1986.

[1] Siegfried Pinkus an US-Militärtribunal Nürnberg, Betr.: Prozeß gegen IG-Farben-Direktoren, 29.8.1947, NI-10820. Nürnberger Dokumente, NI-Serie.