Glossar

Fahren Sie mit der Maus über ein rotes Wort im Haupttext, um den Glossareintrag für dieses Wort zu sehen.

Norbert Wollheims Zeugenaussage im Prozess gegen Veit Harlan

Veit Harlan (1899–1964), Regisseur des antisemitischen Historienfilms Jud Süß (D 1940), war Ende 1947 in einem Hamburger Entnazifizierungsverfahren als „unbelastet“ eingestuft worden. Gegen die Entscheidung erhob sich Protest und zwei Organisationen von Nazi-Opfern stellten Anfang 1948 beim Generalstaatsanwalt der Hansestadt den Antrag, gegen Harlan Anklage auf der Grundlage des von den Alliierten geschaffenen Kontrollratsgesetzes Nr. 10 („Verbrechen gegen die Menschlichkeit“) zu erheben. Die Staatsanwaltschaft beim Landgericht Hamburg ermittelte gegen Harlan und klagte ihn an, als „Beihelfer bei der Begehung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch Verfolgung aus rassischen Gründen mitgewirkt und mit der Planung solcher Verbrechen in Zusammenhang gestanden zu haben“[1]. In dem am 3. März 1949 in Hamburg eröffneten Prozess wurden auch Opfer der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik als Zeugen gehört, unter anderem Norbert Wollheim, der über die Wirkung des Hetzfilms aussagte. Machwerke wie Jud Süßhatten unter den verfolgten Juden und Jüdinnen Nazi-Deutschlands Angst und Schrecken verbreitet. Das in dem Film gezeichnete Judenbild konnte in der Wahrnehmung der verfolgten Juden unter der nicht-jüdischen deutschen Bevölkerung nur Hass und Gewalt schüren.

 

Das Verfahren gegen Harlan endete am 23. April 1949 mit Freispruch. Die Strafverfolgungsbehörde legte Revision ein, der der Oberste Gerichtshof der Britischen Zone (Vorläufer des Bundesgerichtshofs), durch Entscheidung vom 12. Dezember 1949 stattgab. Auch in der Neuverhandlung hatte die Anklage keinen Erfolg. Das Schwurgericht, wiederum unter Vorsitz von Landgerichtsrat Walter Tyrolf, einem einstigen NS-Juristen, sprach Harlan mit Urteil vom 29. April 1950 abermals von aller strafrechtlichen Schuld frei.

 

Wollheim, der im erstinstanzlichen Verfahren „als Vertreter der durch Zufall von den Ausrottungsmaßnahmen des nationalsozialistischen Regimes geretteten Judenheit Deutschlands Erklärungen über das Leben der jüdischen Gruppe im sogenannten ‚Dritten Reich‘ abgegeben“ und über die „Bedeutung des Films ‚Jud Süß‘ für die in dieser Zeit von täglichen Verfolgungen bedrohte jüdische Gemeinschaft“[2] (Wollheim in seinem Schreiben vom 30. März 1950 an die Staatsanwaltschaft beim LG Hamburg) gesprochen hatte, veröffentlichte nach Rückkehr von einer Israelreise Mitte 1949 eine bittere Anklage gegen den Nachfolgestaat des Dritten Reichs und seine „postnationalsozialistische Justiz“. Die Hamburger Richter, die Harlan freigesprochen hatten, „degradierten“ nach Auffassung Wollheims „endgültig den Reinigungsprozess Nach-Hitler-Deutschlands von seinen an seiner Katastrophe schuldigen Verbrechern […] zum politischen Gauklerspiel“.[3]

 

Wollheim konstatierte eine tiefe „Vertrauenskrise der neuen deutschen Justiz“ und resümierte voller Resignation: „Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch hiesige Gerichte aburteilen zu lassen, hat sich, cum grano salis, als eine[r] der großen Fehlgedanken der Besatzungsmächte herausgestellt.“[4] Wollheim zog die Konsequenz und weigerte sich, im zweiten Harlan-Prozess erneut als Zeuge zu erscheinen. Seine Vorahnung und seine Zweifel bestätigten sich nur allzu bald. Harlan verließ, wie bereits ausgeführt, den Gerichtssaal im April 1950 als freier Mann.

 

In seinem Zeitungsartikel erhob Wollheim eine bemerkenswerte „Forderung“: Eine von den Besatzungsmächten der Westzonen „gebildete internationale Richterkommission“ sollte sich „mit der gesamten, im Bereich der Menschlichkeitsprozesse geübten Urteilspraxis beschäftigen“. Mit Emphase begründete Wollheim sein Verlangen: „Diese Prüfung fordern wir wenigen Überlebenden für die Geschändeten und Gemordeten, die durch vom Geist des Nazismus nicht befreite Gerichte gehöhnt und neu beschimpft worden sind. Diese Kommission rufen, heißt, Barrieren gegen die Flut des Neo-Nazismus von Heute zu bauen, die mit immanenter Gewalt in ihr altes Bett zurückzufließen sich anschickt.“[5] Der Ausgang des Harlan-Prozesses war mit ausschlaggebend für Wollheims Entscheidung, Deutschland zu verlassen.

(WR)



Literatur

Liebert, Frank: Vom Karrierestreben zum „Nötigungsnotstand“. „Jud Süß“, Veit Harlan und die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft (1945–50). In: Thomas Henne / Arne Riedlinger (Hg.): Das Lüth-Urteil aus (rechts‑)historischer Sicht. Die Konflikte um Veit Harlan und die Grundrechtsjudikatur des Bundesverfassungsgerichts. Berlin: BWV 2005, S. 111–146.

Pardo, Herbert / Schiffner, Siegfried: Jud Süss. Historisches und juristisches Material zum Fall Veit Harlan. U. M. v. Hendrik G. van Dam / Norbert Wollheim. Hamburg: Auerdruck 1949.

Wollheim, Norbert: … denn Harlan ist ein ehrenwerter Mann. In: Allgemeine Wochenzeitung der Juden in Deutschland, 17.6.1949, S. 7.

[1] Zit. n. Frank Liebert: Vom Karrierestreben zum „Nötigungsnotstand“. „Jud Süß“, Veit Harlan und die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft (1945–50). In: Thomas Henne / Arne Riedlinger (Hg.): Das Lüth-Urteil aus (rechts‑)historischer Sicht. Die Konflikte um Veit Harlan und die Grundrechtsjudikatur des Bundesverfassungsgerichts. Berlin: BWV 2005, S. 111–146, hier S. 126.

[2]  Staatsanwaltschaft Hamburg, 14 Js 555/48, Handakten, Bd. 3, Bl. 604, zit. n. Liebert: Vom Karrierestreben, S. 138.

[3] Norbert Wollheim: … denn Harlan ist ein ehrenwerter Mann. In: Allgemeine Wochenzeitung der Juden in Deutschland, 17.6.1949, S. 7.

[4] Ebd.

[5] Ebd.