NS-Strafverfolgung in der DDR bis zum Fischer-Prozess 1965
In den 1950er Jahren war die Ahndung von NS-Verbrechen in der DDR praktisch zum Erliegen gekommen. Das auch im ostdeutschen Teilstaat vorhandene Problem der unentdeckten NS-Täter wurde externalisiert – in die Bundesrepublik. Anders formuliert, galt Hitler in der DDR vielen als ein Westdeutscher (so Peter Bender) und die NS-Verbrechen als die Verbrechen der anderen (Jurek Becker).[1] Dementsprechend ging in den 1950er Jahren die Zahl der Verurteilungen von NS-Verbrechern in der DDR noch stärker zurück als in der BRD. Von 1956 bis zum Ende der DDR gab es nie mehr als zehn NS-Verfahren pro Jahr.
Die DDR-Führung betrachtete die Strafverfolgung von NS-Verbrechen gegen Ende der Dekade als abgeschlossen. Während der 1. Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main (1963–1965) nationales und internationales Aufsehen erregte wie kein NS-Verfahren zuvor, hatte man in Ostberlin kein Äquivalent vorzuweisen. Durch direkte Verfahrensbeteiligung bemühte sich die DDR-Führung, den 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess durch den Nebenklagevertreter Friedrich Karl Kaul und den Sachverständigen Jürgen Kuczynski zu beeinflussen. Mitte 1965 zeichnete sich ein Scheitern der ostdeutschen Prozessstrategie im westdeutschen Auschwitz-Verfahren ab, die darauf zielte, die I.G. Farben auf die Anklagebank zu setzen und das gesellschaftspolitische Konkurrenzsystem der Bundesrepublik anzugreifen. Zugleich wurde bereits zu diesem Zeitpunkt in Frankfurt am Main ein Folgeprozess vorbereitet. In dieser für die politischen Ambitionen des SED-Regimes extrem ungünstigen Lage in der Auseinandersetzung um die Interpretation der jüngsten Vergangenheit wurde in der DDR der ehemalige stellvertretende SS-Standortarzt von Auschwitz, Dr. Horst Fischer, festgenommen.
Dem offiziellen Geschichtsbild der DDR zufolge war die Ahndung von NS-Verbrechen in Ostdeutschland eine reine Erfolgsgeschichte. Der Anspruch der SED-Führung lautete, konsequent und vor allem systematisch gegen NS-Täter vorgegangen zu sein, den jeweiligen Grad der individuellen Schuld beachtet und die Entfernung aller Belasteter aus ihren Funktionen betrieben zu haben.
Die dominante Rolle des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) ist das Wesensmerkmal der ostdeutschen Strafverfolgung von NS-Verbrechen. Das mit extralegalen Methoden ermittelnde Untersuchungsorgan ging fast ausschließlich nach politisch-operativen Gesichtspunkten vor. Der utilitaristische Umgang mit belastenden Unterlagen ging bis zur Strafvereitelung, je nachdem, ob es der Geheimpolizei gerade opportun erschien, den einen oder anderen NS-Täter zu entlarven. Das verordnete antifaschistische Geschichtsbild der DDR verbot es, ehemalige NS-Täter in den eigenen Reihen zu lokalisieren. Die unbewältigte Vergangenheit war ausschließlich als ein Problem der Bundesrepublik darzustellen, so wollte es die offizielle Propaganda. Die Absolution von der Biographie konnte NS-Tätern in der DDR erteilt werden, wenn sie gesellschaftlich wichtige Positionen innehatten oder durch das MfS als Zuträger desselben erpresst werden konnten. Der Nachweis einer strafrechtlich relevanten Schuld konnte zwar im Einzelfall durchaus gegeben sein, für eine Verurteilung war sie aber weder eine zwingende Voraussetzung, noch führten entsprechende Erkenntnisse zwangsläufig zu einem Richterspruch. Im Gegensatz zur Bundesrepublik bestand in der DDR mithin kein Verfolgungszwang. Es herrschte das Opportunitätsprinzip vor. „Wer Nazi ist, das bestimmen wir“, formulierte ein MfS-ler diese Deutungshoheit über die Vergangenheit.[2]
(CD)