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Räumung des Lagerkomplexes Auschwitz: Der Todesmarsch

Transporte von Häftlingen in offenen Güterwaggons, Winter 1945'© Fritz Bauer Institut (Bestand APMO / Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau)
Transporte von Häftlingen in offenen Güterwaggons, Winter 1945
© Fritz Bauer Institut (Bestand APMO / Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau)

Die Bezeichnung „Todesmarsch“ wurde von Häftlingen der Konzentrationslager geprägt und bezeichnet erzwungene Märsche großer bewachter Gefangenenkolonnen, in deren Verlauf die Häftlinge brutal misshandelt und hunderttausende von den SS-Wachen ermordet wurden. Die SS nannte die Todesmärsche in administrativer Verwaltungssprache beschönigend „Evakuierung“. Der erste Todesmarsch erfolgte Mitte Januar 1940 in Polen, als etwa 800 jüdische Kriegsgefangene der polnischen Armee bei sehr niedrigen Temperaturen unter Bewachung berittener SS auf einen annähernd 100 Kilometer langen Fußmarsch geschickt wurden, den nur wenige Dutzend überlebten. Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 trieben die Besatzungstruppen hunderttausende sowjetische Kriegsgefangene von der Front in die Lager im rückwärtigen Heeresgebiet, wo auch die jüdische Bevölkerung von der Besatzungsverwaltung zu Todesmärschen gezwungen wurde.

 

Mit der großen Offensive der Roten Armee und den alliierten Landungen im Westen räumte die SS 1944/45 die in Frontnähe geratenen Konzentrationslager und deportierte die Gefangenen in Gebiete, die noch unter deutscher Kontrolle standen. Ziel war es, die Häftlinge weiterhin als Arbeitskräfte für die deutsche Industrie ausbeuten zu können. Die Fußmärsche dauerten bis zu einem Monat und gingen oft über Entfernungen von Hunderten Kilometern. Alle, die zurückblieben, wurden erschossen – oft ganze Marschkolonnen. In den Fällen, in denen die Häftlinge auf Züge verladen wurden, litten sie, im Durchschnitt mit 70 Personen in einem Waggon zusammengepfercht, unter Sauerstoff-, Wasser- und Nahrungsmangel. Im Winter 1944/45 erfroren sie zu Hunderten in den Zügen. Die genaue Zahl der bei den Todesmärschen getöteten Menschen ist unbekannt. Es wird geschätzt, dass allein von den 750.000 Konzentrationslagerhäftlingen, welche die Todesmärsche in den letzten Wochen des Krieges antreten mussten, zwischen 250.000 und 375.000 ermordet wurden. Die Brutalitäten und Morde fanden vielfach öffentlich auf den Straßen vor den Augen der deutschen Bevölkerung statt.

 

Die Auschwitz-Lager und ihre Nebenlager bereiteten sich im Januar 1945 auf die „Evakuierung“ vor. Am 12. Januar 1945 begann die Weichsel-Offensive der Roten Armee. Am 17. Januar begann die Kommandantur, die Auschwitz-Monowitz III unterstellten Nebenlager Neu-Dachs und Sosnowitz II zu räumen. Im Stammlager gab der SS-Standortälteste Richard Baer den SS-Kolonnenführern den Befehl, das Stammlager, Birkenau und das KZ Buna/Monowitz zu räumen.

 

Zwischen dem 17. und 21. Januar wurden etwa 56.000 Häftlinge aus dem Stammlager, Birkenau, Monowitz und zahlreichen Nebenlagern in Marschkolonnen nach Westen geführt. Ungefähr 9.000 völlig entkräftete sowie schwerkranke Häftlinge und Mitglieder des Häftlingspersonals der Krankenbaracken blieben zurück. Einigen wenigen relativ gesunden Gefangenen gelang es auch, sich in der Hoffnung auf baldige Befreiung durch die Rote Armee in Verstecken zu verbergen.

 

Viele Männer, Frauen und Kinder starben an Entkräftung und Erfrierungen. Eine weitaus größere Zahl wurde jedoch von den eskortierenden SS-Wachposten ermordet, die alle Zurückbleibenden erschossen oder erschlugen. An den Hauptrouten des Todesmarsches blieben in der oberschlesischen Provinz etwa 3.000 Leichen zurück, über die Zahl der Ermordeten an der Trassen durch Niederschlesien und die nördlichen Regionen Mährens und Böhmens liegen bis heute keine gesicherten Erkenntnisse vor. Ein großer Teil der Marschkolonnen – etwa 35.000 bis 40.000 Häftlinge – erreichte zwischen dem 19. und 23. Januar Gliwice (Gleiwitz) und Wodzisław Śląski (Loslau), wo sie in Eisenbahnwaggons gepfercht und zu Konzentrationslagern im Inneren des Reichsgebiets transportiert wurden. Während der Transporte, die teilweise in ungedeckten Güterwaggons durchgeführt wurden, starben Hunderte von Menschen an Erschöpfung, Durst, Hunger oder infolge der Kälte. Die Schätzungen der während der Räumung und der Todesmärsche von Auschwitz ums Leben gekommenen und ermordeten Häftlinge schwanken zwischen 9.000 und 15.000 Menschen.

(FS)



Literatur

Czech, Danuta: Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau 1939–1945. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1989.

Gilbert, Martin: Endlösung. Die Vertreibung und Vernichtung der Juden. Ein Atlas. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1995.

Krakowski, Shmuel: Todesmärsche. In: Enzyklopädie des Nationalsozialismus. Hg. v. Wolfgang Benz / Hermann Graml / Hermann Weiß. München: dtv 1997, S. 759–761.

Strzelecki, Andrzej: Endphase des KL Auschwitz. Evakuierung, Liquidierung und Befreiung des Lagers. Oświęcim: Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau 1995.

Wagner, Bernd C.: IG Auschwitz. Zwangsarbeit und Vernichtung von Häftlingen des Lagers Monowitz 1941–1945. München: Saur 2000.