Glossar

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Raubzug des I.G. Farben-Konzerns in den eroberten Gebieten

Die Leitungsgremien der I.G. Farben begrüßten die Expansion des Deutschen Reiches: Die Annexion Österreichs im März 1938, den Einmarsch in das Sudetenland im Oktober und die vollständige Besetzung Böhmens und Mährens im März 1939. Umgehend begann der Konzern, die chemiewirtschaftliche „Neuordnung“ in den annektierten Gebieten zu betreiben. Bereits im Juni 1938 erwarb die I.G. in Österreich von der Kreditanstalt-Bankverein, die ihr seit einer Transaktion vom Januar für eine komplette Übernahme noch fehlenden Kapitalanteile der Stickstoffwerke Skoda Wetzler AG und ihrer Tochtergesellschaften, entließ die zuvor von den Nazis inhaftierten jüdischen Spitzenmanager Isidor Pollak und Franz Rottenberg zusammen mit allen anderen „nicht-arischen“ Arbeiter/innen und Angestellten und setzte Hans Kühne, den Leiter der Betriebsgemeinschaft Niederrhein, als Betriebsführer ein. Vier Monate später übernahm sie in der Slowakei von der Dynamit Nobel Bratislava deren österreichische Beteiligungsgesellschaften und überführte sie im Juni 1939 zusammen mit den Skoda-Wetzler Werken in eine neu gegründete Tochtergesellschaft der I.G. Farben, die Donau Chemie AG. Zusätzlich löste sie ihre bisherige österreichische Verkaufsgesellschaft, die Anilin-Chemie in Wien, auf und übertrug den gesamten Verkauf der I.G. und der Donau-Chemie-Gruppe auf eine neu gegründete Donau-Chemikalien Verkaufsgesellschaft mbH.

 

Alle diese Transaktionen waren von einer kompromisslosen Praxis des Herausdrängens von Juden aus den angeeigneten Betrieben begleitet. Im Gegensatz zu den bislang im Reichsgebiet praktizierten Methoden wurden die drangsalierten jüdischen Arbeiter/innen und Angestellten fristlos und ohne Abfindungen auf die Straße geworfen. Die I.G.-Manager unternahmen nichts, um antisemitische Ausschreitungen, welche die ‚Kaufverhandlungen‘ begleiteten, zu unterbinden. Sie führten zur bestialischen Ermordung Isidor Pollaks durch ein SA-Kommando. Die Südosteuropa-Arbeitsgruppe des Kaufmännischen Ausschusses der I.G. unter Leitung von Max Ilgner war daran interessiert, möglichst rasch und reibungslos die österreichische Düngemittel- und Sprengstoffindustrie in Besitz zu nehmen, deren Kapazitäten sofort in die laufenden Programme der „Reichsstelle für Wirtschaftsausbau“ integriert wurden. Die I.G. Farben legte ein weitgehend durch Wehrmacht und Luftwaffe finanziertes Investitionsprogramm in Höhe von 192 Millionen RM auf, und noch vor der formellen Gründung der Donau Chemie AG begann sie mit dem Aufbau neuer Produktionskomplexe für Flugzeugbenzin, Schmierstoffe, Magnesium und die rüstungswichtigen anorganischen Chemikalien Schwefelsäure und Chlor.

 

Die Annexion des Sudetenlandes ermöglichte den Zugriff auf die in Aussig/Ústí nad Labem und Falkenau gelegenen Werke des Vereins für Chemische und Metallurgische Produktion (kurz: Aussiger Verein). Der Kaufmännische Ausschuss der I.G. bereitete sich schon seit dem April 1938 darauf vor. Es kam zu einer Konkurrenz mit anderen Interessenten, schließlich griff das Reichswirtschaftsministerium in die Verhandlungen ein. Am 7. Dezember 1938 wurde der Kaufvertrag unterzeichnet. Die I.G. Farben und die Chemischen Werke von Heyden kauften die beiden Fabriken für 32,4 Millionen RM – nachdem deren Wert auf 120 Millionen RM geschätzt worden war. Sie gründeten die Chemischen Werke Aussig-Falkenau GmbH mit einem Stammkapital von 10 Millionen RM, an denen sie sich zu jeweils 50 Prozent beteiligten. Die I.G. Farben hatten damit die Vormachtstellung in der chemischen Industrie im Sudetenland übernommen.

 

Unmittelbar nach dem Überfall des Deutschen Reichs auf Polen im September 1939 entwickelten die I.G. Farben eine „Europaplanung“, die bis zum Herbst 1940 ausgereift war. Es handelte sich dabei keineswegs um Projektionen auf eine fernere Zukunft. Der Kaufmännische Ausschuss setzte je nach der Stoßrichtung der „Blitzkriege“ und der durch sie in Reichweite geratenen Objekte und Chemiemärkte Sonderstäbe ein, in denen die jeweils involvierten Sparten, Verkaufsgemeinschaften und Werksleitungen zusammen mit den Experten der Länderausschüsse und Fachkommissionen des Technischen Ausschusses die Situation evaluierten und davon ausgehend Handlungsszenarien entwarfen. Die Mitarbeiter der Wirtschaftspolitischen Abteilung reichten diese Szenarien dann bei den zentralen und lokalen Entscheidungsträgern ein, um den Weg zu ihrer Umsetzung freizumachen. Jedoch warteten die Leitungsgremien nicht die Verhandlungsergebnisse ab, sondern sandten aufgrund ihrer Erfahrungen in Österreich und im Fall Aussig-Falkenau gleichzeitig ihre kaufmännischen und technischen Experten an die gerade eroberten Standorte, um die Wirtschaftskommandos der Wehrmacht bei der Bergung der Beute und der Wiederaufnahme der Produktion zu beraten und die Inbesitznahme in die Wege zu leiten. Dank dieser Vorleistungen verbesserten sich ihre Übernahmechancen erheblich.

 

Kurz nach dem Überfall auf Polen begannen I.G.-Angestellte, die wichtigsten Unternehmen und Anlagen vor Ort zu inspizieren. Das Reichswirtschaftsministerium stimmte der Einsetzung von Kommissaren der I.G. Farben für den Chemiekonzern Boruta S.A. in Zgierz sowie die Farbenfabriken in Winnica und Wola zu. Damit befand sich fast die gesamte Teerfarbenindustrie Polens in der Hand der I.G. Farben. Die polnischen Aktionäre der Boruta wurden enteignet und die I.G. Farben pachtete den Konzern von der Haupttreuhandstelle Ost, bis sie ihn schließlich 1942 mit Unterstützung des Reichskommissariats für die Festigung deutschen Volkstums käuflich erwarb. Die von jüdischen Eigentümern betriebene Farbenfabrik in Wola ließ die I.G. Farben stilllegen und beteiligte sich an ihrer Ausschlachtung. Bei den Farbwerken in Winnica konnte sie hingegen geltend machen, dass sie über die I.G. Chemie Basel mit einem Anteil von 50 Prozent stille Teilhaberin der 1931 vom französischen Chemiekonzern Kuhlmann errichteten Anlagen war, und übernahm nach der deutschen Besetzung Frankreichs die restlichen Anteile.

 

Nach der Besetzung Frankreichs gelang es der I.G., mit Unterstützung des Reichswirtschaftsministeriums auch hier ihre Ziele durchzusetzen. Trotz Verzögerungsversuchen der französischen Chemieindustrie wurde der I.G. Farben im November 1940 eine Beteiligung von 51 Prozent an der französischen Farbstoffindustrie zugestanden, nachdem sie den französischen Unternehmern eine knapp einprozentige Beteiligung an ihrem eigenen Aktienkapital konzediert hatte. Auf dieser Basis wurde anschließend das Gemeinschaftsunternehmen Francolor S.A. mit einem Startkapital in Höhe von 800 Millionen Francs gegründet. Zusätzlich übten die I.G.-Vertreter massiven Druck aus, um die Liquidierung der nicht übernommenen Gesellschaften durchzusetzen, während sich der Pharma-Konzern Rhône-Poulenc zur Gründung gemeinsamer Verkaufsgesellschaften bereit erklärte. Auf diese Weise gelang es der I.G. Farben, die französische Chemieindustrie in die deutsche Kriegswirtschaft zu integrieren, nachdem sie ihr Demontageprogramm zugunsten der „wehrwirtschaftlichen“ Prioritäten zurückgestellt hatte. Die strategische Kriegswende und die Résistance stellten diese Konstruktion jedoch bald wieder in Frage.

(GK; erstellt auf der Grundlage von Karl Heinz Roth: Die I.G. Farbenindustrie AG im Zweiten Weltkrieg)



Download

[pdf] Karl Heinz Roth_Die IG Farbenindustrie AG im Zweiten Weltkrieg

  

Quellen

Archiv des Fritz Bauer Instituts, Nürnberger Nachfolgeprozess Fall VI, ADB 51, 52, 53, 54, 55, 56.

Franz Rottenberg, Eidesstattliche Erklärung, 13.9.1947, NI-10997. Archiv des Fritz Bauer Instituts, Nürnberger Nachfolgeprozess Fall VI, ADB 52.

 

Literatur

OMGUS: Ermittlungen gegen die I.G. Farbenindustrie AG. Nördlingen: Greno 1986.

Osterloh, Jörg: Nationalsozialistische Judenverfolgung im Reichsgau Sudetenland 1938–1945. München: Oldenbourg 2006.

Puchert, Berthold: Fragen der Wirtschaftspolitik des deutschen Faschismus im okkupierten Polen 1939 bis 1945, mit besonderer Berücksichtigung der IG Farbenindustrie AG. Habilitationsschrift, Humboldt-Universität Berlin 1968 (MS).