Selektionen und Menschenversuche im Häftlingskrankenbau
(Antoni Makowski: Organisation, Entwicklung und Tätigkeit des Häftlings-Krankenbaus in Monowitz (KL Auschwitz III). In: Hefte von Auschwitz 15 (1975), S. 113–181, hier S. 137.)
(Leon Staischak [Stasiak], Eidesstattliche Erklärung, 3.9.1947, NI-10928. Archiv des Fritz Bauer Instituts, Nürnberger Nachfolgeprozess Fall VI, ADB 75 (d), Bl. 208–218, hier Bl. 214.)
(Oszkár Betlen, richterliche Vernehmung vom 18./19.9.1962 in Frankfurt am Main, Auschwitz-Prozess, LG Frankfurt am Main, 4 Ks 2/63. Archiv des Fritz Bauer Instituts, FAP-1, HA-72, Bl. 13587–13595, hier Bl. 13588.)
„Am nächsten Tag wurden zwei Häftlinge aus Birkenau zu uns gebracht. Der eine war Tscheche und Chauffeur von Beruf, der andere ein polnischer Schlächter. Beide waren erst seit einigen Tagen im Lager und gesund und muskulös [...] Wir wurden angewiesen, ihnen so viel zu essen zu geben, wie in sie hineinging […] Die beiden gesunden Patienten waren glücklich, als hätten sie das große Los gezogen. Hier, im Reich des Hungers, so gefüttert zu werden! Ob sie wirklich nicht ahnten, zu welchem Zweck man sie hergebracht hatte?
Nach zwei Tagen kam Entress wieder. Er machte eine Bluttransfusion. Blut zweier Typhuskranker wurde in die Adern der beiden Gesunden gepumpt. Aus dem Experiment wollte man offenbar feststellen, ob der Typhus durch Blut übertragen wird und mit welcher Intensität er dann auftritt. Nach Beendigung des Experiments blieben nur vier Patienten im Revier: die beiden Kranken, denen man Blut abgezapft hatte, und die Versuchsobjekte. Die übrigen wurden abtransportiert. In den Quarantäneblocks meldete sich niemand mehr krank. Die Isolierten hatten gemerkt, daß die Kranken nicht gepflegt, sondern fortgeschafft wurden […] Vier Tage nach der Bluttransfusion starb der eine Blutspender. Seine Leiche mußte durch den Raum hinausgeschafft werden, in dem die beiden Versuchsobjekte lagen. Bestürzt sahen sie einander an, als fragten sie, in welchem von ihnen das Blut des Toten kreise. Auf einmal war es aus mit ihrer guten Laune. Auch der Appetit war ihnen vergangen. Unberührt blieb ihr Brot liegen. Dann stellte sich das Fieber ein.“
Beide wurden auf Befehl von Entress nach Abschluss des Experiments nach Birkenau geschickt.
(Oszkár Betlen: Leben auf dem Acker des Todes. Berlin: Dietz 1962, S. 88–89.)
(„Mengele glaubt an die Theorie, dass Böses Böses austreibt. Deshalb befiehlt er Injektionen mit 96-prozentigem Alkohol in alle meine Glieder. So etwas wurde noch nie versucht. Die fremden Ärzte stehen mit ihren einundzwanzig Spritzen über mir. Sie führen die Nadeln in meine Glieder, und füllen mich mit Alkohol. Es schmerzt. Es brennt. Es ätzt. Mein ganzer Körper ist ein einziger Schmerz. Ich kann nicht ruhig im Bett liegen, ich kann die Decke nicht über meinem Körper ertragen […] Mein ganzer Körper schmerzt unmenschlich. Weit weg höre ich mein eigenes Schluchzen.“ (Übers. SP))
(Vera Komissar: På Tross av Alt. Julius Paltiel – norsk Jøde i Auschwitz [1995]. Trondheim: Communicatio 2004, S. 80.)
(Antoni Makowski: Organisation, Entwicklung und Tätigkeit des Häftlings-Krankenbaus in Monowitz (KL Auschwitz III). In: Hefte von Auschwitz 15 (1975), S. 113–181, hier S. 164.)
(Ernest W. Michel: Promises to Keep. One Man’s Journey against Incredible Odds. New York: Barricade Books 1993, S. 70–72.)
„Das Interesse der SS-Ärzte für den Häftlingskrankenbau war nur oberflächlich. Hauptsache für sie war die Anzahl der Kranken und die Beseitigung der Infektionskranken und der längere Zeit Bettlägrigen [sic]. […] Vor allem aber führte er [der SS-Arzt] systematisch Selektionen durch, um langwierig kranke oder abgezehrte Häftlinge herauszusuchen. Diese Häftlinge schickte er aus dem Nebenlager ins Zentrallager Auschwitz, um sie durch Phenolinjektionen zu töten, und in späterer Zeit – in die Gaskammer von Birkenau.“[1]
Da die I.G. Farben die mit der SS vereinbarten Tagessätze für kranke Häftlinge nur für eine begrenzte Zeit (14 bis 21 Tage) zu zahlen bereit war,[2] galt im KZ Buna/Monowitz die Regel, dass immer nur etwa 5% aller Häftlinge krank gemeldet sein durften. In der Schreibstube des Häftlingskrankenbaus (HKB) wurde über den jeweiligen Krankenstand Buch geführt. Erreichte dieser die kritische Marke, konnte das Häftlingspersonal korrigierend eingreifen, d.h. Genesende oder leicht Verletzte entlassen, etwa in „leichten Kommandos“ unterbringen. Wenn die Zahl der Kranken immer noch zu hoch war, wurde eine Selektion angesetzt
In den Betrieb des HKB ihres KZ Buna/Monowitz griff die I.G. unmittelbar ein. In anderen Lagern (u.a. im KZ Buchenwald, in Dachau und im Stammlager) unternahmen Ärzte pharmakologische Experimente an lebenden Häftlingen. Bei solchen Menschenversuchen mit neu entwickelten Medikamenten vor allem von Bayer spielte der SS-Arzt Hellmuth Vetter[3], ein ehemaliger Angestellter der I.G., eine wichtige Rolle. Er führte Fleckfieber-Experimente an Häftlingen im Stammlager Auschwitz durch. Für das KZ Buna/Monowitz sind mehrere im Januar und Februar 1943 im HKB an Häftlingen durchgeführte Fleckfieber-Versuchsreihen durch Überstellungs
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kumentiert.[4] Leon Stasiak und Oszkár Betlen, Häftlingspfleger im Krankenbau, bestätigen diese Versuche.
Der polnische Häftlingsarzt Zenon Drohocki unternahm ab Frühjahr 1944 Versuche, durch Elektroschocks mittels einer speziell angefertigten Maschine neurologische Krankheiten und psychiatrisch Kranke zu heilen. Als Therapiemethode war die Elektroschockbehandlung seit den 1920er Jahren gefeiert, jedoch bereits in den 1940er Jahren auch kritisch rezipiert worden. Während Zenon Drohocki hoffte, durch seine Versuche Geisteskranke vor der sicheren Ermordung durch die SS zu retten
(SP)