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Siegmund Kalinski (*1927)

Siegmund Kalinski, Videostill aus dem Interview für das Wollheim Memorial, 2007'© Fritz Bauer Institut
Siegmund Kalinski, Videostill aus dem Interview für das Wollheim Memorial, 2007
© Fritz Bauer Institut

„Im Vergleich zu Birkenau war Monowitz ein ‚Sanatorium‘, wie die Häftlinge zu sagen pflegten. Sie meinten damit, daß sie dort immerhin einen Strohsack hatten, auf dem sie ihren Kopf legen konnten, während sie in Birkenau zu zwölft oder zu sechzehnt, auf Holzpritschen eingepfercht, in einer Pferdebaracke schlafen mußten.“

(Siegmund Kalinski: Erinnerungen an Menschen in der Hölle von Auschwitz. In: Ärzte Zeitung, 27.1.2005, S. 2.)

„Ich wollte gar nicht erinnern…. Am liebsten hätte ich das verdrängt. Ich habe über 25 Jahre in Deutschland gelebt, und habe kein Wort von Auschwitz gesagt; keiner hat etwas gewusst, ich wollte es nicht.“[1]

 

Siegmund Kalinski wurde 1927 als jüngstes von drei Geschwistern in Kraków geboren. Sein Vater, ein liberaler deutscher Jude, betrieb hier ein Schuhgeschäft. Siegmund Kalinski besuchte die polnische Schule, er hatte viele polnische Freunde, mit denen er Fußball spielte. Nach der 6. Klasse durfte er nicht mehr zur Schule gehen, der Zweite Weltkrieg war ausgebrochen: 1939 wurden die Männer aufgerufen, Kraków zu verlassen; er wurde von seiner Familie getrennt und floh mit einem Onkel 600 km zu Fuß durch Polen. Erst im September 1939 gelangte er zurück nach Kraków, wo er seine Eltern wiedertraf. Ihre finanzielle und rechtliche Situation verschlechterte sich, bald musste die Familie ihre gesamte Habe verkaufen und ins Ghetto nach Bochnia ziehen. 1942, mit den ersten Deportationen, wurde sein Vater abtransportiert, kurz darauf seine Mutter. Er sah seine Eltern nie wieder.

 

Siegmund Kalinski musste Zwangsarbeit am Fliegerhorst Krakau leisten. Die Schwester lebte seit 1935 in Palästina, der Bruder ging in den Untergrund. Siegmund wurde alleine ins KZ Auschwitz-Birkenau deportiert und nach wenigen Wochen, am Heiligen Abend 1943, weitergeschickt ins KZ Buna/Monowitz. Die Häftlinge mussten nackt bei minus 20 Grad Celsius die ganze Nacht im Freien auf die Aufnahme ins Lager warten. In Monowitz fand er drei „alte Häftlinge“, die ihn protegierten: Janek Grossfeld, Nathan Weissmann, Leo Diament. Sie vermittelten ihm „Lehrer“, die ihn in Geschichte und Naturwissenschaften unterrichteten. Schließlich bekam er Arbeit als Schreiber im Elektrikerkommando. Seine drei Freunde wurden vor aller Augen im Lager gehenkt, weil ihre Fluchtpläne verraten worden waren. Dem am 18. Januar 1945 beginnenden Todesmarsch über Gleiwitz, Mauthausen, Sachsenhausen, Oranienburg, Flossenbürg (Oberpfalz) entkam er, indem er Ende April 1945 in einer leeren Munitionskiste über den Rhein zur französischen Armee schwamm.

 

Nach dem Krieg bestand er das Kriegsabitur in Kraków und studierte Medizin. Er arbeitete in Polen als Arzt und Journalist, bis er nach zwei Jahren in Österreich 1965 in die BRD emigrierte. Hier arbeitete er als Facharzt für Allgemeinmedizin und Lehrbeauftragter der Goethe-Universität Frankfurt am Main und engagiert sich bis heute in zahlreichen Gremien der Ärzteschaft. 2008 wurde er mit der höchsten Auszeichnung der Ärzteschaft, der Paracelsius-Medaille, geehrt. Über seine Lagerzeit wollte er nicht sprechen, erst Anfang der 1980er Jahre erzählte er seinen Kollegen davon.

(SP)

 

 

Siegmund Kalinski, lebensgeschichtliches Interview

(Deutsch)



Quelle

Siegmund Kalinski, Lebensgeschichtliches Interview [Dt.], 11.9.2007. Archiv des Fritz Bauer Instituts, Norbert Wollheim Memorial.

 

Literatur

Kalinski, Siegmund: Erinnerungen an Menschen in der Hölle von Auschwitz. In: Ärzte Zeitung, 27.1.2005, S. 2.

[1] Siegmund Kalinski, Lebensgeschichtliches Interview [Dt.], 11.9.2007. Archiv des Fritz Bauer Instituts, Norbert Wollheim Memorial.