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Standortentscheidung der I.G. Farben für Auschwitz

Die Frage, warum sich die I.G. Farben für Auschwitz als Standort für ihre neue Chemiefabrik entschied, ist in der historischen Forschung umstritten.

 

Da die Buna-Produktion vor allem für die militärische Nutzung geplant war, besteht Einigkeit darüber, dass neben wirtschaftlichen Gründen – Vorhandensein von Arbeitskräften und Rohstoffen, geeignetem Baugelände, Zufahrtswegen, Rentabilität – auch politische und militärische Überlegungen eine Rolle spielten. Es gibt unterschiedliche Einschätzungen, wie eng die Zusammenarbeit zwischen der I.G. Farben und dem Dritten Reich war und wie selbständig die I.G. Farben ihre eigenen Ziele verfolgte. Ging es der I.G. Farben primär um Forschung und Gewinne oder wollte sie ihren Beitrag zum Erfolg des Deutschen Reichs leisten? Beide Aspekte sind nicht ganz voneinander zu trennen; ihre Gewichtung wird jedoch unterschiedlich eingeschätzt.

 

1940 wurde im Deutschen Reich in drei Werken Buna produziert – in Schkopau, Ludwigshafen und Hüls. Diese Standorte lagen nahe den Außengrenzen des Reiches und galten tendenziell als bedroht. Nach den anfänglichen Erfolgen der Deutschen Wehrmacht (Besetzung Polens und Frankreichs innerhalb weniger Monate) wurden die Bauarbeiten für ein weiteres Buna-Werk in Rattwitz bei Breslau eingestellt, weil der Bedarf an zusätzlichem Buna nicht mehr gegeben schien. Erst als sich im verlorenen Luftkrieg gegen England abzeichnete, dass der Krieg lange dauern und deswegen weiterhin große Mengen an Material nötig würden, wurden die Planungen eines zusätzlichen Buna-Werkes, welches außerdem der Produktion weiterer synthetischer Produkte, auch über die Kriegszeit hinaus, dienen sollte, wieder aufgenommen.

 

In Verhandlungen mit dem Reichswirtschaftsministerium wurde die I.G. Farben 1940 dazu aufgefordert, dieses Werk in Schlesien zu errichten, da es dort besser vor Luftangriffen geschützt sei als der Ausbau einer der drei bestehenden Produktionsstandorte. Peter Hayes und Bernd C. Wagner argumentieren, dass die I.G. Farbenindustrie ihr Monopol bei der Buna-Produktion nicht aufgeben wollte, und sehen in der Wahl des Standortes Auschwitz-Monowitz ein Zugeständnis an die Interessen des Reichswirtschaftsministeriums, pünktlich und verlässlich mit dem für sie wichtigen Material beliefert zu werden. Karl Heinz Roth und Florian Schmaltz interpretieren die Entscheidung der Standortwahl als Ausdruck langfristiger ökonomischer Interessen der I.G. Farben: Die konzerneigenen Produktionsziele (Hydrier-, Acetylen- und Kunststoffchemie) konnten problemlos mit den Anforderungen der Wehrmacht (Mineralöl, Buna und Sprengstoffe) vereinbart werden, da letztere als „Nebenprodukte“ bei der Produktion ersterer entstünden. Durch den Standort in Oberschlesien konnte die I.G. Farben zudem ihren Wirkungsbereich weit in den Osten ausdehnen – auch über die unmittelbaren Bedürfnisse der Kriegsindustrie hinaus.

 

Ebenfalls umstritten ist die Frage, welches der Kriterien das entscheidende für den Standort Auschwitz und gegen andere mögliche Orte in Schlesien war – so entschied sich die I.G. Farben gegen die Wiederaufnahme der Baustelle in Rattwitz, obwohl die Kosten geringer ausgefallen wären. Die Verkehrsanbindung von Auschwitz-Monowitz war gut, es gab naheliegende Kohlebergwerke und Kalkvorkommen sowie durch die Flüsse Weichsel und Sola auch genügend Wasser. Durch das KZ Auschwitz war der Bedarf an Arbeitskräften in der Bauphase gedeckt.

 

Schmaltz und Roth messen der Nähe zum KZ Auschwitz bereits in der Planungsphase großes Gewicht bei, ähnlich sieht es Gottfried Plumpe. Wagner hingegen stuft dieses Kriterium nur als eines unter anderen ein und Hayes gar als überhaupt nicht relevant: Arbeitskräfte seien mobil, geografische Gegebenheiten nicht, ähnlich argumentiert Raymond Stokes. Die Auseinandersetzung zwischen Plumpe und Hayes kritisierten Thomas Sandkühler und Hans Walter Schmuhl. Alle sind sich jedoch einig, dass die I.G. Farben dem Einsatz von Zwangsarbeit mindestens bereitwillig zustimmte und die Führungsebene von Beginn an über den Einsatz von Zwangsarbeitern Bescheid wusste. Dies bestätigte auch Hans Deichmann, ein damaliger leitender Angestellter der I.G. Farben.

(SD)



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[pdf] Karl Heinz Roth_Die IG Farbenindustrie AG im Zweiten Weltkrieg

 

Literatur

Deichmann, Hans / Hayes, Peter: Standort Auschwitz: Eine Kontroverse über die Entscheidungsgründe für den Bau des I.G. Farben-Werks in Auschwitz. In: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 11 (1998), H. 1, S. 79–101.

Hayes, Peter: Zur umstrittenen Geschichte der I.G. Farbenindustrie AG. In: Geschichte und Gesellschaft 18 (1992),  S. 405–417.

Hayes, Peter: Die IG Farben im Nationalsozialismus. In: Begegnung ehemaliger Häftlinge von Buna/Monowitz. Zur Erinnerung an das weltweite Treffen in Frankfurt am Main 1998. Hg. v. Christian Kolbe / Tanja Maria Müller / Werner Renz. Frankfurt am Main: Fritz Bauer Institut 2004, S. 99–110.

Plumpe, Gottfried: Industrie, technischer Fortschritt und Staat. Die Kautschuksynthese. In: Geschichte und Gesellschaft 9 (1983), H. 4, S. 564–597.

Plumpe, Gottfried: Antwort auf Peter Hayes. In: Geschichte und Gesellschaft 18 (1992), S. 526–532.

Sandkühler, Thomas / Schmuhl, Hans Walter: Noch einmal: Die I.G. Farben und Auschwitz. In: Geschichte und Gesellschaft 19 (1992), H. 2, S. 259–267.

Schmaltz, Florian / Roth, Karl Heinz: Neue Dokumente zur Geschichte des I.G. Farben Werks Auschwitz-Monowitz. Zugleich eine Stellungnahme zur Kontroverse zwischen Hans Deichmann und Peter Hayes. In: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 13 (1998), H. 2, S. 100–116.

Stokes, Raymond G.: Von der I.G. Farbenindustrie AG bis zur Neugründung der BASF (1925–1952). In: Werner Abelshauser (Hg.): Die BASF. Eine Unternehmensgeschichte. München: Beck 2002, S. 221–358.

Wagner, Bernd C.: IG Auschwitz. Zwangsarbeit und Vernichtung von Häftlingen des Lagers Monowitz 1941–1945. München: Saur 2000.