Glossar

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Vorermittlung und Verfahrensaufnahme gegen Dr. Horst Fischer

Horst Fischer war verantwortlich für die Selektion von mindestens 70.000 Menschen, vornehmlich Jüdinnen und Juden, an der Rampe von Auschwitz, in den Häftlingskrankenbauten sowie in dem von SS und der I.G. Farben betriebenen KZ Buna/Monowitz, wo er der zuständige SS-Lagerarzt war. Im Jahr 1965 hatten die ostdeutschen Ermittler mit dem ehemaligen SS-Mediziner den ranghöchsten KZ-Arzt dingfest machen können, der sich je vor einem deutschen Gericht verantworten musste.

 

Fischer hatte damit gerechnet, sein Leben nach Auschwitz unbehelligt weiterführen und seine Karriere als Mediziner nahtlos fortsetzen zu können. Durch einfache Tricks und das Verschweigen seiner Verbrechen war es ihm gelungen, sich mit seiner Frau und vier Kindern in der DDR eine bürgerliche Existenz als Landarzt aufzubauen. Für Fischer war die Ahndung während der NS-Zeit begangener Verbrechen ein abgeschlossenes Kapitel. Seine Hoffnung war keinesfalls realitätsfern: Eine Systematik bei der Strafverfolgung von NS-Verbrechen existierte in der DDR lediglich hinsichtlich der konsequenten Ausblendung eigener Defizite in diesem Bereich. Wie im Westen erwies sich auch in Ostdeutschland die Ahndung der im größten nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager begangenen Verbrechen eher als Zufall. Aufgefallen war der Landarzt dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) nicht aufgrund seiner Tätigkeit in Auschwitz, sondern vielmehr wegen seiner intensiven „Westkontakte“. Er war in einer gesellschaftlich wertvollen Position, da in Ostdeutschland ein Defizit an Medizinern herrschte. Im Zusammenspiel mit Fischers Verschleierungstaktik war dies wohl das ausschlaggebende Moment dafür, dass der ehemalige KZ-Arzt bis zum Sommer 1965 unentdeckt bleiben konnte.

 

Im Zusammenhang mit dem 1. und 2. Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main (1963–1965, 1965–1966) wurde ein Verfahren gegen Fischer für die SED-Führung interessant, da man über seinen Fall die Rolle der I.G. Farben in Auschwitz zur Sprache bringen konnte.

 

Die Prozessvorbereitung und die Durchführung des Verfahrens gegen Fischer verdeutlichen die systematische Einflussnahme des MfS auf NS-Prozesse, getreu der Behandlung dieser Verfahren durch die SED als politische Strafsachen. Jede einzelne Phase des Verfahrens unterlag einer exakten Planung der Geheimpolizei. Wichtig war allein ein möglichst maximaler „politisch-operativer“ Gewinn in der deutsch-deutschen Systemauseinandersetzung. So führte zum Beispiel ein SED-Funktionär aus: „Meines Erachtens wäre es günstig, wenn das Verfahren zwei bis drei Wochen vor Beendigung des westdeutschen Prozesses stattfände, also etwa Ende Februar/Anfang März. Es brauchte nur einige Tage zu dauern, müsste aber durch seinen Ablauf und sein Urteil Einfluß auf das westdeutsche Verfahren nehmen, die Schuld der IG Farben anprangern und unter Teilnahme einiger Vertreter aus westlichen Ländern stattfinden."[1]

 

Das „öffentliche“ Verfahren vor dem Obersten Gericht der DDR in Ostberlin und handverlesenem Publikum sollte der ostdeutschen Justiz einen rechtsstaatlichen Nimbus verleihen und internationale Reputation evozieren.

 

Auch die Abstimmung des Fischer-Komplexes mit der Nebenklagevertretung im 2. Frankfurter Auschwitz-Prozess fand unter der Federführung des MfS statt, das jederzeit Herr des Verfahrens blieb. Die Geheimpolizei war der entscheidende Impulsgeber für die Konzeption und propagandistische Auswertung des Prozesses. Die gängige Praxis, den Schlussbericht der Geheimpolizei nahezu unverändert als staatsanwaltschaftliche Anklageschrift zu übernehmen, fand auch im Vorfeld des Fischer-Prozesses Anwendung.

 

Die Anklage warf Fischer im Einzelnen vor, Selektionen in den Häftlingskrankenbauten des Stammlagers und der Nebenlager, hier insbesondere des I.G. Farben-Lagers Buna/Monowitz, sowie in den dortigen Arbeitskommandos durchgeführt zu haben. Darüber hinaus wurde er wegen der Beaufsichtigung der SS-Desinfektoren beim Einwerfen des Giftgases in die als „Sauna“ getarnte Gaskammer von Birkenau angeklagt. Zudem habe er die körperliche Misshandlung von Häftlingen als SS-Lagerarzt sanktioniert und den Vollzug dieser Strafmaßnahmen überwacht. In seiner Funktion als Stellvertreter des SS-Standortarztes wurde Fischer vorgeworfen, mehrfach Zyklon B zur Vernichtung der Häftlinge angefordert zu haben. Schließlich lautete der Hauptanklagepunkt, Fischer sei verantwortlich für die Aussonderung von bis zu 75.000 Menschen an der Rampe von Birkenau und deren anschließende Ermordung.

 

Getreu der offiziellen Faschismusdefinition wurde in der Anklage ein recht eindimensionales Bild des Lagerkomplexes Auschwitz gezeichnet. Schnell ging es ausschließlich um die I.G. Farben und ihre Zusammenarbeit mit der SS. Man konnte den Eindruck gewinnen, neben dem ehemaligen stellvertretenden SS-Standortarzt Horst Fischer hätten die Manager der I.G. Farben auf der Anklagebank Platz genommen. Gleichwohl: Liest man über die Propagandaformeln, die mit dem Angeklagten nicht einmal mittelbar in einen strafrechtlichen Zusammenhang zu bringen waren, hinweg, wurde die Geschichte des größten nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagers im Wesentlichen korrekt nachgezeichnet, die Alltags- und Lebensbedingungen der Häftlinge historisch einwandfrei rekonstruiert. Bei der Beschreibung der Fischer zur Last gelegten Verbrechen griff die Anklage immer wieder auf „die Einlassungen des Beschuldigten“ zurück. Bei einigen Anklagepunkten musste sich der Generalstaatsanwalt ausschließlich auf die Aussagen des Angeklagten berufen. Fischers persönliche Niederschriften und die von ihm angefertigten Skizzen über den Tatort wurden als Beweismittel herangezogen.[2]

(CD)



Quellen:

Anklagerede des Generalstaatsanwaltes im Fischer-Prozess, 10.3.1966. BAB, DP3 IA – 3/66, Handakte Dr. Horst Fischer, Bl. 201ff.

Anklageschrift im Fischer-Prozess, 24.2.1966. Die Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU), ZUV 83, Bd. 58, Bl. 60ff.

Arne Rehan (Westabteilung beim ZK der SED) an Albert Norden, 2.12.1965. Bundesarchiv Berlin, DY 30/IV A2/2.028/10.

Schlussbericht des MfS gegen Horst Fischer, 29.1.1966. BStU, ZUV 84, HA Bd. 17, Bl. 96ff.

Stellungnahme der HA IX/10 zur Aktennotiz der Abteilung Agitation über eine Besprechung des Gen. Kehl mit dem Gen. Rehan zum bevorstehenden II. Auschwitz-Prozess, 16.12.1965. BStU, ZUV 84, BA/GA Bd. 58, Bl. 61ff.

 

Literatur:

Dirks, Christian: „Die Verbrechen der anderen“. Auschwitz und der Auschwitz-Prozess der DDR: Das Verfahren gegen den KZ-Arzt Dr. Horst Fischer. Paderborn: Schöningh 2006.

Leide, Henry: NS-Verbrecher und Staatssicherheit. Die geheime Vergangenheitspolitik der DDR. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005.

[1] Arne Rehan (Westabteilung beim ZK der SED) an Albert Norden, 2.12.1965. Bundesarchiv Berlin, DY 30/IV A2/2.028/10; Stellungnahme der HA IX/10 zur Aktennotiz der Abteilung Agitation über eine Besprechung des Gen. Kehl mit dem Gen. Rehan zum bevorstehenden II. Auschwitz-Prozess, 16.12.1965. Die Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU), ZUV 84, BA/GA Bd. 58, Bl. 61ff.

[2] Schlussbericht des MfS, 29.1.1966. BStU, ZUV 84, HA Bd. 17, Bl. 96ff. Die Anklageschrift vom 24.2.1966 (BStU, ZUV 83, Bd. 58, Bl. 60ff.) ist im Wesentlichen identisch mit der am 10.3.1966 von 10:05 Uhr bis 11:00 Uhr vorgetragenen, leicht gekürzten Anklagerede des Generalstaatsanwaltes (BAB, DP3 IA – 3/66, Handakte Dr. Horst Fischer, Bl. 201ff.).