Wandel und Auswahl in Elie Wiesels Darstellungen seiner Lagerzeit
‚Mein Sohn, Wasser … Ich verbrenne … Mein Bauch…‘
‚Ruhe, dort!‘ brüllte der Offizier.
‚Elieser‘, rief mein Vater in einem fort, ‚Wasser…‘
Der Offizier trat heran und schrie, er solle den Mund halten. Aber mein Vater hörte nicht und rief in einem fort. Der Offizier schlug ihm mit seinem Knüppel auf den Kopf.
Ich rührte mich nicht. Ich fürchtete, mein Körper fürchtete, auch einen Schlag zu bekommen.
Nun röchelte mein Vater, und ich hörte meinen Namen:
‚Elieser.‘
Ich sah ihn noch stoßweise atmen und rührte mich nicht.
Als ich nach dem Appell von meiner Pritsche stieg, konnte ich noch seine Lippen murmeln sehen. Über ihn gebeugt, betrachtete ich ihn eine gute Stunde lang, um sein blutüberströmtes Gesicht, seinen zerschmetterten Schädel im Gedächtnis zu bewahren.
Dann war Nachtruhe, und ich kletterte auf meine Pritsche über meinem Vater, der noch immer lebte. Es war der 28. Januar 1945.
Am 29. Januar erwachte ich im Morgengrauen. Anstelle meines Vaters lag ein anderer Kranker auf der Pritsche unter mir. Vermutlich hatte man ihn vor Tagesanbruch in die Gaskammer gebracht. Vielleicht atmete er noch…
Es wurden keine Gebete über seinem Grab gesprochen, zu seinem Andenken wurde keine Kerze entzündet. Sein letztes Wort war mein Name gewesen. Ein Ruf, den ich nicht beantwortet hatte.
Ich weinte nicht, und es tat mir weh, nicht weinen zu können. Aber ich hatte keine Tränen mehr. Hätte ich mein schwaches Gewissen bis ins Tiefste erforscht, vielleicht hätte ich dort etwas wie das Wörtchen ‚endlich frei!‘ entdeckt…“
(Elie Wiesel: Die Nacht. Erinnerung und Zeugnis [1962]. Mit einer Vorrede von François Mauriac. Freiburg: Herder 1996, S. 152–153.)
(Elie Wiesel: All Rivers Run to the Sea. Memoirs, Vol. One 1928–1969. London: HarperCollins 1996, S. 93–94.)
Nicht nur er hatte in den Tagen der Auswahl den Glauben verloren. Ich habe den Rabbiner einer kleinen polnischen Stadt gekannt, einen gebeugten Greis mit stets zitternden Lippen, der die ganze Zeit im Block, auf dem Arbeitsplatz, in Reih und Glied betete. Ganze Seiten aus dem Talmud sagte er auswendig auf, diskutierte mit sich selbst, stellte sich Fragen und beantwortete sie. Eines Tages sagte er zu mir:
‚Es ist aus. Gott ist nicht mehr mit uns.‘
Und als bereue er, diese Worte trocken und kalt hervorgestoßen zu haben, fügte er mit erloschener Stimme hinzu:
‚Ich weiß. Man hat nicht das Recht, so etwas zu sagen, ich weiß es wohl. Der Mensch ist zu klein, zu unbedeutend, um die geheimnisvollen Wege Gottes suchen und verstehen zu können. Aber was kann ich tun? Ich bin kein Weiser, kein Gerechter, ich bin kein Heiliger. Ich bin ein einfaches Geschöpf aus Fleisch und Blut. Ich leide Höllenqualen in meiner Seele und in meinem Fleisch. Ich habe auch Augen im Kopf und sehe, was hier geschieht. Wo ist die göttliche Barmherzigkeit? Wo ist Gott? Wie kann ich, wie kann man an diesen Gott der Barmherzigkeit glauben?‘
Armer Akiba Drumer! Hätte er sich seinen Glauben an Gott bewahren, hätte er in diesem Leidensweg eine Prüfung Gottes sehen können, er wäre nicht ein Opfer der Auslese geworden. Sobald er aber den ersten Riss in einem Glauben spürte, verlor er jeden Grund zum Weiterkämpfen, und der Todeskampf begann.
Als die Auswahl begann, war er von vorneherein verurteilt, weil er seinen Hals dem Henker hinstreckte. Er bat uns nur:
‚In drei Tagen bin ich nicht mehr … sagt Kaddisch für mich.‘
Wir versprachen es: Sollte in drei Tagen der Schornstein rauchen, würden wir an ihn denken. Wir würden zehn der Unsrigen zusammenrufen und eine besondere Andacht abhalten. Alle seine Freunde würden Kaddisch sagen.
Dann machte er sich mit fast sicherem Schritt zum Lazarett auf den Weg, ohne sich einmal umzublicken. Dort wartete eine Ambulanz, um ihn nach Birkenau zu bringen.
Das waren schreckliche Tage. Wir bekamen mehr Hiebe als Essen und die Arbeit gab uns fast den Rest. Drei Tage nach seinem Fortgang vergaßen wir Kaddisch zu sagen.“
(Elie Wiesel: Die Nacht. Erinnerung und Zeugnis [1962]. Mit einer Vorrede von François Mauriac. Freiburg: Herder 1996, 108–110.)
(Elie Wiesel: All Rivers Run to the Sea. Memoirs, Vol. One 1928–1969. London: HarperCollins 1996, S. 84.)
(Elie Wiesel: All Rivers Run to the Sea. Memoirs, Vol. One 1928–1969. London: HarperCollins 1996, S. 87–88.)
(Elie Wiesel: All Rivers Run to the Sea. Memoirs, Vol. One 1928–1969. London: HarperCollins 1996, S. 93–94.)
Die Darstellung des Protagonisten Eliezer in Elie Wiesels Zeugenbericht La Nuit (1958, dt. Nacht, 1962) ist von einer starken Schonungslosigkeit gegenüber dem Bild, das von dem Jungen im Lager entsteht, gezeichnet. All seine religiösen Zweifel, seine Schuldgefühle, seine Gefühle gegenüber dem Vater, der für ihn nicht nur einen sicheren Bezugspunkt, sondern in manchen Situationen des Todesmarschs auch eine Belastung darstellt, erscheinen vor den Leser/innen. Sie führen Eliezer zu moralischen Auseinandersetzungen mit sich selbst, mit seinen Wünschen und Gedanken, damit, wieweit er diesen erlaubt, sich auf sein Verhalten auszuwirken. Den Leser/innen werden unauflösbare Fragen nach dem ‚richtigen‘ Verhalten im Lager vor Augen gestellt. Besonders deutlich wird dies in der Szene vom Tod des Vaters in Buchenwald, der noch einmal von einem SS-Mann geschlagen wird, während Eliezer sich still verhält, da er fürchtet, auch geschlagen zu werden.
Im ersten Band seiner Autobiographie Tous les fleuves vont à la mer (1994, dt. Alle Flüsse fließen ins Meer, 1996) beschreibt Elie Wiesel erneut die Szene des Todes seines Vaters, die ihn sein ganzes Leben lang begleitete. Nun liegt der Focus der Darstellung darauf, dass er damals nichts mehr für seinen Vater tun konnte und selbst geschlagen wurde.
Im Verlauf von Nacht rebelliert Eliezer, der in Sighet Talmud und Kabbala mit großem Eifer studierte und als streng gläubiger Chassid ins Lager gekommen ist, dort gegen Gott. An Rosh HaShana verweigert er z.B. das Gebet, da er angesichts dessen, was vor seinen Augen geschieht, nicht weiß, wofür er Gott noch danken solle. Doch verwirft er seinen Glauben nicht, sondern lehnt sich, in einer Hiob ähnlichen Geste,[1] innerhalb seines Glaubens gegen Gott auf, mit dem er hadert, dass und warum dieser die Juden so im Stich gelassen habe. Zugleich wird das Schicksal anderer religiöser Juden geschildert, die im KZ Buna/Monowitz ihren Glauben und damit ihren Lebenswillen verlieren.
„‚Wo ist Gott?‘
Und ich hörte eine Stimme in mir antworten:[4]
‚Wo er ist? Dort – dort hängt er, am Galgen…‘“[5]
So entsteht das Bild eines Jesus-gleichen Opfers, doch zugleich wird offen gehalten, ob dies nun als Ausdruck einer völligen Verlassenheit von Gott zu verstehen sei, oder als Zeichen, dass dieser doch mit ‚seinen Juden‘ sei und leide.
In Alle Flüsse fließen ins Meer gibt Elie Wiesel im zweiten Kapitel, „Finsternis“, erneut einen Bericht über seine Zeit im Holocaust. Viel Raum nimmt nun die letzte Zeit in Sighet und die Deportation ein, es lässt sich nur verhältnismäßig wenig über das KZ Buna/Monowitz und den schrecklichen Alltag dort, das alltägliche Sterben erfahren, ganz im Gegensatz zu Nacht. Vielmehr ist dieses Kapitel der Autobiographie in weiten Teilen eine Reflexion über Auschwitz – ausgehend von der Frage nach der Bedeutung des dort Erlebten für Elie Wiesels Glauben. Berichtet wird nun, dass er und auch sein Vater im Lager versucht hätten, alle Gebete zu sprechen, und das Gespräch über die religiöse Tradition Elie geholfen habe, seinen Lebenswillen aufrechtzuerhalten. Von einem polnischen Rabbiner wird erzählt, der das Lager gerade deshalb nicht überlebte, weil er an Yom Kippur fastete, also die Gebote hielt.
Im Vergleich dieser beiden Gestaltungen seiner Erinnerungen entsteht der Eindruck, dass der Elie Wiesel der 1950er Jahre noch viel stärker die Notwendigkeit einer solchen Rebellion spürte, so stark, dass sie in Nacht für die Reaktionen seiner Figur Eliezer auf die Geschehnisse im KZ Buna/Monowitz entscheidend wurde. 1994 scheint für den Autor Elie Wiesel die jüdische Religion und das Leben ihrer Traditionen und Gebote wieder einen alles bestimmenden Wert zu haben. Die Rebellion findet keinen prägenden Ausdruck mehr in der Darstellung seiner Erinnerungen. Es zeigt sich, dass die sich verändernde Lebenssituation des Überlebenden – „the survivor continues to live and, in living, to change“[6] – zu veränderten Gestaltungen der Erinnerungen an die Lagerzeit führt. Wiesel selbst spricht dem literarisch gestalteten Bericht eine besondere Gültigkeit als Aussage über seine Zeit im KZ Buna/Monowitz auch im autobiographischen Rückblick zu:
“My intent here is not to repeat what I recounted in Night but to review that testimony as I see it now. Was I explicit enough? Did I miss what was essential? Did I serve memory well? In fact, if I had it to do over again, I would change nothing in my deposition.”[7]
(MN)