Glossar

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Akkordsystem und Prämienscheine

„Ich habe selbst die Verwaltung der sogenannten Leistungssteigerungs-Zigaretten gehabt. Wenn man einem Häftling eine Schachtel Zigaretten in die Tasche gesteckt hat, dann war er selig. Auch Dr. Dürrfeld hat, wenn er durchs Werk ging, einige Schachteln Zigaretten verteilt, auch an Häftlinge.“

(Rolf Brüstle, Zeugenvernehmung, 19.2.1953. HHStAW, Abt. 460, Nr. 1424 (Wollheim gegen IG Farben), Bd. II, Bl. 271–278R, hier Bl. 276.)

Trotz brutaler Methoden, die Häftlinge mit Schlägen und permanenter Todesdrohung zu hohen Arbeitsleistungen anzutreiben, entsprachen diese nicht den Erwartungen der I.G. Farben. Nachdem die Werksleitung die SS wiederholt aufgefordert hatte, nur „gesunde“ und „arbeitsfähige“ Häftlinge zur I.G. Auschwitz auszuwählen, und damit indirekt zahlreiche erschöpfte Menschen zur „Überstellung nach Birkenau“ verurteilte, schlug die I.G. Farben Mitte 1942 der SS die Einführung eines Akkordsystems für die Häftlinge vor, das im Lagerjargon auch als das „‚FFF-System‘ (Frauen, Fressen, Freiheit)“[1] bezeichnet wurde. Angestellte der I.G. berichten von kleinen Belohnungen, die sie an die Häftlinge verteilen konnten.  a 

 

In Folge dieses „Akkordsystems“ führte die I.G. sogenannte Prämienscheine ein, mit denen Häftlinge für eine „überdurchschnittliche“ Arbeitsleistung belohnt werden sollten. Die Häftlinge konnten sie gegen Kleinigkeiten eintauschen oder als Zahlungsmittel im Lagerbordell einsetzen. Eine zunächst von der I.G. anvisierte „Inaussichtstellung der Freiheit“ für Häftlinge als höchste Prämie, scheiterte an der strikten Ablehnung der SS. Ein knappes Jahr später erlaubte das WVHA die Belohnung guter Arbeitsleistungen. Die ersten Prämienscheine wurden ausgegeben, die im Lager neben Brot und Suppe den Charakter einer Währung annahmen. Allerdings profitierten davon fast ausschließlich Funktionshäftlinge, geschätzte 15% der Inhaftierten. Die hart arbeitenden ‚gewöhnlichen‘ Häftlinge gingen leer aus:

 

„Die Verteilung [der Prämienscheine] wird aber nur in unregelmäßigen Abständen, sehr sparsam und mit offenkundiger Ungerechtigkeit vorgenommen, so daß der größte Teil der Scheine entweder unmittelbar oder durch Amtsmißbrauch in die Hände der Kapos und Prominenten gelangt; immerhin kursieren die Prämienscheine der Buna auf dem Lagermarkt an Geldes Statt, und ihre Wertschwankungen richten sich genau nach den Gesetzen der klassischen Ökonomie.“[2]

 

Als Gegenwert für einen Prämienschein konnte der Häftling in der Häftlingskantine „einkaufen“. Dort standen ihm Tabak, Zahnpasta, Zigarettenpapiere oder ähnliches zur Auswahl, selten jedoch nahrhafte Lebensmittel. Die erworbenen Güter wurden daher häufig verwendet, um sie mit Zivilarbeitern auf der Baustelle weiter zu tauschen.

(SP)



Quelle

Rolf Brüstle, Zeugenvernehmung, 19.2.1953. HHStAW, Abt. 460, Nr. 1424 (Wollheim gegen IG Farben), Bd. II, Bl. 271–278R.

 

Literatur

Levi, Primo: Ist das ein Mensch? Erinnerungen an Auschwitz. Frankfurt am Main: Fischer 1961.

Setkiewicz, Piotr: Ausgewählte Probleme aus der Geschichte des IG Werkes Auschwitz. In: Hefte von Auschwitz 22 (2002), S. 7–147.

Wagner, Bernd C.: IG Auschwitz. Zwangsarbeit und Vernichtung von Häftlingen des Lagers Monowitz 1941–1945. München: Saur 2000.

[1] Piotr Setkiewicz: Ausgewählte Probleme aus der Geschichte des IG Werkes Auschwitz. In: Hefte von Auschwitz 22 (2002), S. 7–147, hier S. 86.

[2] Primo Levi: Ist das ein Mensch? Erinnerungen an Auschwitz. Frankfurt am Main: Fischer 1961, S. 84.