Glossar

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Auschwitz-Überlebende als Zeugen in NS-Strafgerichtsverfahren

 a  Paul Hoffmann, Brief aus den Akten des Rakers-Prozess:

„Immer wieder habe ich in den letzten Jahren an die Bestien von Monowitz gedacht, an Schwarz, Schöttl, Stolten, Fischer, Rakers etc. Was ist wohl aus diesen vielfachen Mördern geworden? Ich wünschte nur immer, dass sie tot sind, damit sie nicht von einem Gericht verurteilt werden können, um nach kurzer Zeit ‚wegen guter Führung‘ entlassen [zu] werden und später als gleichberechtigte Bürger wieder eingereiht [zu] werden, während ihre Schuld zum Himmel schreit und ein tausendfacher Tod ihre Verbrechen erst sühnen würde.“

(Brief des Auschwitz-Überlebenden Paul Hoffmann (Bielefeld) vom 22.11.1950 an das Auschwitz-Komitee (Berlin). StA b. LG Osnabrück, 4 Ks 2/52, Hauptakten, Bd. II, Bl. 17R.)

 

 b  Artikel Norbert Wollheims zum Urteil im Harlan-Prozess:

„Wir werden darum, ob die mittelbar oder unmittelbar Beteiligten es gern haben oder nicht, nicht müde werden, Sühne zu verlangen. Sühne für die getanen, Sühne für die nicht getilgten, Sühne für die in der modernen Geschichte der Menschheit einmaligen Verbrechen an einem ganzen Volke. Sühne für die Verbrechen der Vergangenheit fordern heißt, sie für die Zukunft zu verhindern. Gibt es noch wahre Verantwortung, so ist dies der Zeitpunkt, jetzt und hier energisch einer weiteren demoralisierenden Entwicklung Einhalt zu gebieten.“

(Wollheim, Norbert: …denn Harlan ist ein ehrenwerter Mann. In: Allgemeine Wochenzeitung der Juden in Deutschland, 17.6.1949, S. 7.)

Mitglieder der Arbeitskommandos, die in den vier Krematorien des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau die Ermordeten zu verbrennen gezwungen waren, haben heimlich Aufzeichnungen gemacht und am Tatort in der Hoffnung vergraben, dass die Nachwelt ihre „Handschriften“ entdecke und zur Kenntnis nehme.

 

Bereits vor der Auflösung der Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau hatten entflohene Häftlinge wie Jerzy Tabeau, Rudolf Vrba, Alfred Wetzler, Czeslaw Mordowicz und Arnost Rosin die Weltöffentlichkeit über den Massenmord aufklären wollen. Überlebende des Konzentrations- und Vernichtungslagerkomplexes Auschwitz-Birkenau-Monowitz haben unmittelbar nach ihrer Befreiung vor polnischen und sowjetischen Untersuchungskommissionen über die in den Lagern begangenen Verbrechen berichtet.

 

Die Alliierten beschlossen noch während des Zweiten Weltkriegs, die sogenannten Hauptkriegsverbrecher und weitere verantwortliche Führungskräfte und Befehlsgeber zur Rechenschaft zu ziehen. Vor Militärgerichten der Vereinigten Staaten von Amerika, der Sowjetunion, Großbritanniens und Frankreichs sowie vor nationalen Tribunalen der von der deutschen Wehrmacht überfallenen Länder hatten sich die nationalsozialistischen Verbrecher zu verantworten. In vielen Verfahren sagten Überlebende als Zeugen gegen die Angeklagten aus.

 

Opferzeugen waren von den Anklagevertretungen in Vorbereitung der Verfahren vernommen und die Vernehmungsprotokolle als Beweismittel in die Prozesse eingeführt worden. Zur Hauptverhandlung wurden die überlebenden Häftlinge vor allem als Zeugen der Anklage geladen. Sie machten ihre Bekundungen und beantworteten auf der Grundlage der vorgelegten Beweismaterialien Fragen der Prozessparteien. Die Vernehmung der Opferzeugen erfolgte nach Maßgabe der prozessualen Regeln, die in dem jeweiligen Verfahren gültig waren. In den angloamerikanischen Strafgerichtsverfahren wurden die Zeugen von Anklage und Verteidigung befragt. Die Gerichte selbst waren nach den Vorgaben des geltenden Prozessrechts nicht gehalten, zur Sachverhaltsaufklärung beizutragen. Diesem Umstand ist es zum Beispiel geschuldet, dass Zeugenvernehmungen im Nürnberger Prozess gegen I.G. Farben (1947/1948) vor einem amerikanischen Militärgericht bezüglich der Darstellung von Tathergängen nicht immer sehr ergiebig waren.

 

Die im Rahmen der Anklageerhebung durchgeführten Vernehmungen (eidesstattliche Erklärungen, Affidavits), die Aussagen während der Hauptverhandlung sowie die umfangreichen Dokumentensammlungen stellen für die historische Forschung einen wichtigen bis heute von der Geschichtswissenschaft bei weitem noch nicht ausgeschöpften Quellenbestand dar.

 

In den bundesdeutschen Verfahren gegen Auschwitz-Täter erfolgte die Vernehmung von Opferzeugen in der Hauptsache durch die Schwurgerichte, die nach § 244 Strafprozessordnung zum Zweck der Wahrheitserforschung die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel erstrecken müssen, die für die richterliche Entscheidung von Bedeutung sind. Neben den polizeilichen, staatsanwaltschaftlichen und richterlichen Vernehmungen im Rahmen des Vorverfahrens stellen daher die Anhörungen der Überlebenden als Zeugen in der Hauptverhandlung eine wichtige historische Quelle dar.

 

Im Verfahren gegen den NS-Regisseur Veit Harlan bekundete zum Beispiel der Zeuge Norbert Wollheim die für die verfolgten Juden verheerenden Auswirkungen von antisemitischen Filmen wie Jud Süß (D 1940). Im Strafprozess gegen den einstigen Rapportführer des KZ Buna/Monowitz Bernhard Rakers schilderten Überlebende den täglichen Terror der SS. Im Zivilverfahren gegen I.G. Farben i.L. (Wollheim-Prozess) hatten ehemalige Zwangsarbeiter des Chemieunternehmens die Möglichkeit, sehr umfassend über die Arbeitsbedingungen in I.G. Auschwitz zu berichten.

 

Die Zeugenschaft der Überlebenden in den verschiedenen Verfahren ist unterschiedlich dokumentiert. Die vor Gericht gemachten Aussagen sind in Sitzungsprotokollen, in der Prozessberichterstattung, in den Beweisgründen eines Urteils festgehalten. Im Fall des 1. Frankfurter Auschwitz-Prozesses(1963–1965) ist die Quellenlage außergewöhnlich gut. Die meisten Zeugenvernehmungen sind auf Tonband aufgenommen. Der Mitschnitt ist erhalten geblieben und liegt transkribiert vor.[1]

 

Über die Motivation der einzelnen Überlebenden, sich als Opferzeugen zur Verfügung zu stellen und in einem Justizverfahren als Beweismittel zu fungieren, lassen sich aus Mangel an Quellen keine näheren Angaben machen. Gelegentlich sprechen der Vernichtung Entronnene davon, dass die Verbrechen nicht „ungesühnt“ bleiben durften, die Täter eine „gerechte Strafe“ erleiden sollten.  a   b  Einige hatten noch im tagtäglichen Überlebenskampf, im Falle der wenig wahrscheinlichen Lebensrettung, Rache geschworen, wollten im Gedenken an die ermordeten Familienangehörigen und Kameraden Vergeltung üben. Aus den vielfältigsten Gründen ließen nahezu alle Überlebende, die die Toten zu rächen sich vorgenommen hatten, von dem Vorhaben ab. Die meisten setzten ihre Hoffnung auf ordentliche Gerichte, die durch die Wiederherstellung des Rechts die ersehnte Gerechtigkeit verwirklichen sollten.

 

Wieviel Vertrauen die einzelnen Überlebenden in die jeweilige Strafgerichtsbarkeit setzten, wie sie die gefällten Urteile bewerteten, welchen Zweck sie mit den verhängten Strafen verbanden, ist nicht zu sagen. Die begrenzten Möglichkeiten der Justiz, geschehenes Unrecht durch Strafaussprüche zu vergelten, zu sühnen, auszugleichen – oder was immer als Strafzweck angeführt werden mag –, waren den Überlebenden allzu bewusst. Wie stark ihr Strafbedürfnis auch war, wie groß ihr Gerechtigkeitsverlangen, wie quälend ihr Wunsch nach Schuldvergeltung, den Holocaust-Überlebenden, den Übriggebliebenen, dem Rest eines hingemordeten Volkes (Sheʼarit Ha-pleta / שארית הפלטה), konnte kein Strafurteil Genugtuung, Ausgleich und Aussöhnung bedeuten. Überaus schmerzlich muss es deshalb für die Zeugen aus den Reihen der Überlebenden gewesen sein, miterleben zu müssen, dass viele der zu Freiheitsstrafen verurteilten NS-Verbrecher in Deutschland alsbald begnadigt und vorzeitig aus der Haft entlassen wurden.

(WR)



Quelle

Paul Hoffmann, Brief an das Auschwitz-Komitee (Berlin), 22.11.1950, Bielefeld. StA b. LG Osnabrück, 4 Ks 2/52, Hauptakten, Bd. II, Bl. 17R.

 

Literatur

Der Auschwitz-Prozess. Tonbandmitschnitte, Protokolle und Dokumente. DVD-ROM. 2., durchgesehene und verbesserte Auflage. Hg. v. Fritz Bauer Institut und dem Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau. Berlin: Directmedia 2005.

Inmitten des grauenvollen Verbrechens. Handschriften von Mitgliedern des Sonderkommandos. Oświęcim: Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau 1996.

Swiebocki, Henryk (Hg.): London wurde informiert... Berichte von Auschwitz-Flüchtlingen. Übers. v. Jörg Lüer. Oświęcim: Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau 1997.

Wollheim, Norbert: …denn Harlan ist ein ehrenwerter Mann. In: Allgemeine Wochenzeitung der Juden in Deutschland, 17.6.1949, S. 7.

[1] Der Auschwitz-Prozess. Tonbandmitschnitte, Protokolle und Dokumente. DVD-ROM. 2., durchgesehene und verbesserte Auflage. Hg. v. Fritz Bauer Institut und dem Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau. Berlin: Directmedia 2005, 48.679 Bildschirmseiten, 528 Abb.,100 Stunden Audio-Auswahl (Zeugenvernehmungen).