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Der Ablauf von Selektionen im Lager

Benjamin Grünfeld: Selektion im KZ Buna/Monowitz'© Benjamin Grünfeld
Benjamin Grünfeld: Selektion im KZ Buna/Monowitz
© Benjamin Grünfeld

 a  „Jeden Monat kamen Ärzte von Auschwitz um eine Auswahl in Monowitz zu treffen und diejenigen, welche für weitere Arbeit unfähig befunden wurden, wurden von der Arbeit weggeholt, für eine kurze Zeit isoliert und dann vom Auschwitzer Kraftwagen abgeholt. Einige Tage später wurden die Sachen dieser Leute zurückgebracht. Ich konnte öfters persönliche Sachen von Leuten die ich kannte erkennen, einschließlich Augengläser.“

(Gregoire M. Afrine, Eidesstattliche Erklärung, 5.6.1947, NI-7184. Archiv des Fritz Bauer Instituts, Nürnberger Nachfolgeprozess Fall VI, ADB 75 (d), Bl. 98–102, hier Bl. 100.)

 

 b  „Selektionen fanden alle 3–6 Wochen außer im Krankenbau von Monowitz auf dem Appellplatz und beim Tor von Monowitz beim Ausrücken der Häftlinge statt. Die selektierten Häftlinge wurden auf einen offenen Lastwagen geworfen – ohne Schuhe und ohne Leibwäsche – (dies auch im Winter) und abtransportiert. Diese Häftlinge sträubten sich oft dagegen und schrien.“

(Leon Staischak [Stasiak], Eidesstattliche Erklärung, 3.9.1947, NI-10928. Archiv des Fritz Bauer Instituts, Nürnberger Nachfolgeprozess Fall VI, ADB 75 (d), Bl. 208–218, hier Bl. 217)

Die Selektionen im KZ Buna/Monowitz fanden in den Blocks, auf dem Appellplatz oder morgens am Lagertor beim Ausmarsch der Häftlinge statt. Die Selektionen in den Blocks wurden nach Arbeitsschluss und wiederholt an arbeitsfreien Sonntagen vorgenommen, damit der I.G. kein Arbeitsausfall entstehe. Ein Gongschlag verkündete die Blocksperre. Der Blockälteste gab jedem Häftling einen Zettel mit seiner Nummer, Namen, Beruf, Alter und Nationalität. Alle Häftlinge eines Blocks – bis zu 250 Häftlinge – mussten sich bis auf die Schuhe nackt in den „Tagesraum“ drängen. Dann hatten sie einzeln ins Freie zu gehen, wo sie eine Kommission aus dem SS-Lagerarzt, dem Lagerältesten des Häftlingskrankenbaus, dem SS-Sanitätsdienstgrad (SDG), dem Blockältesten und dem Blockschreiber erwartete. Vor dem SS-Arzt hatte der Häftling stehen zu bleiben, seinen Zettel abzugeben und sich zu drehen, so dass sein Gesäß sichtbar werde – und damit, ob er dort noch über letzte Fettreserven verfüge –, und zurück in den Block zu gehen. Die Häftlinge versuchten zu sehen, auf welchen Stapel – „arbeitsfähig“ oder „arbeitsunfähig“ – der SDG und der Blockschreiber auf Anweisung des SS-Arztes ihre Karte gaben. Die Unsicherheit und Diskussionen der Häftlinge, wie über sie entschieden worden war, klärten sich erst nach ein oder zwei Tagen, wenn der Häftlingsschreiber des Rapportführers beim Morgenappell die Nummern derjenigen aufrief, die selektiert worden waren. Die SS brachte sie kurz darauf mit Lastwagen nach Birkenau in die Gaskammern. Meist kam ihre Kleidung schon nach wenigen Stunden zurück, um für andere Häftlinge verwendet zu werden.  a 

 

Ähnlich verliefen die Selektionen auf dem Appellplatz. Die Häftlinge mussten blockweise antreten, wurden von der erwähnten Kommission oberflächlich begutachtet und die Nummern der Selektierten aufgeschrieben. Manchmal täglich, manchmal aber auch in längeren Abständen – dies hing wohl mit der Beschwerdelage der I.G.-Angestellten über die Häftlinge zusammen – fanden Selektionen beim Ausmarsch der Häftlinge morgens am Lagertor statt. Der Arbeitseinsatzführer, der SS-Lagerarzt, der Rapportführer und der Lagerälteste begutachteten die in Fünferreihen vorbeimarschierenden Häftlinge und holten die „nicht arbeitsfähigen“ heraus. Häufig nahmen hohe I.G.-Angestellte, unter ihnen der Betriebsführer Walther Dürrfeld, an den Selektionen am Lagertor teil, um zu sehen, dass ‚die Richtigen‘ selektiert wurden. Am Lagertor wurden in der Regel 40–50 Häftlinge zurückbehalten und einer kurzen Untersuchung durch die Ärztekommission unterzogen, 20–30 von ihnen brachte die SS wenig später nach Birkenau.

 

Die absolute Zahl der Selektionen im Lager lässt sich wegen der stark schwankenden Angaben der überlebenden Häftlinge und der unvollständigen Überlieferung von Dokumenten nicht mehr feststellen. Das Fehlen zeitlicher Fixpunkte im Lagerleben machte eine chronologische Einordnung in der Erinnerung schwer. So wird vor allem von besonders großen Selektionen berichtet, wie der vom 17. Oktober 1944, bei der nach den Aufzeichnungen des Sonderkommando-Häftlings Zalman Lewental 2.000 Häftlinge selektiert wurden.[1] Der Arbeitsplatz eines Häftlings und, zu welcher Zeit er in Monowitz inhaftiert war, beeinflusste, welche Selektionen ihm bekannt waren; z.B. erfuhren im Lager arbeitende Häftlinge von den Selektionen am Lagertor höchstens indirekt. Aus den schwankenden Angaben der Überlebenden lässt sich schließen, dass wahrscheinlich alle 4–6 Wochen, zumindest jedes Vierteljahr eine Selektion im Lager von der SS durchgeführt wurde.  b 

(MN)



Quellen

Gregoire Afrine, Eidesstattliche Erklärung, 5.6.1947, NI-7184. Archiv des Fritz Bauer Instituts, Nürnberger Nachfolgeprozess Fall VI, ADB 75 (d), Bl. 98–102.

Kai Feinberg, Eidesstattliche Erklärung, 13.3.1947, NI-4822. Archiv des Fritz Bauer Instituts, Nürnberger Nachfolgeprozess Fall VI, ADB 75 (d), Bl. 58–60.

[Posener, Curt]: Zur Geschichte des Lagers Auschwitz-Monowitz (BUNA). Unveröffentlichtes Manuskript, undatiert, 53 Seiten. Archiv des Fritz Bauer Instituts.

Leon Staischak [Stasiak], Eidesstattliche Erklärung, 3.9.1947, NI-10928. Archiv des Fritz Bauer Instituts, Nürnberger Nachfolgeprozess Fall VI, ADB 75, Bl. 208–218.

Jan Stern, Eidesstattliche Erklärung, 1.5.1947, NI-4828. Archiv des Fritz Bauer Instituts, Nürnberger Nachfolgeprozess Fall VI, ADB 75 (d), Bl. 143–146 sowie ADB 78 (d), Bl. 166–169.

Noack Treister, Eidesstattliche Erklärung, 3.3.1947, NI-4827. Archiv des Fritz Bauer Instituts, Nürnberger Nachfolgeprozess Fall VI, ADB 75 (d), Bl. 184–186 sowie ADB 79 (d), Bl. 1–3.

Rudolf Vitek, Eidesstattliche Erklärung, 3.3.1947, NI-4830. Archiv des Fritz Bauer Instituts, Nürnberger Nachfolgeprozess Fall VI, ADB 75 (d), Bl. 61–69.

 

Literatur

Setkiewicz, Piotr: Ausgewählte Probleme aus der Geschichte des IG Werkes Auschwitz. In: Hefte von Auschwitz 22 (2002), S. 7–147, bes. S. 53.

Setkiewicz, Piotr: Zdziejów obozów IG Farben Werk Auschwitz 1941–1945. Oświęcim: Państwowe Muzeum Auschwitz-Birkenau 2006, S. 157–158.

Wagner, Bernd C.: IG Auschwitz. Zwangsarbeit und Vernichtung von Häftlingen des Lagers Monowitz 1941–1945. München: Saur 2000.

White, Joseph Robert: IG Auschwitz: The Primacy of Racial Politics. Dissertation, University of Nebraska at Lincoln, NE, 2000.

[1] Einige größere Selektionen lassen sich zudem anhand einer vom Lagerwiderstand versteckten statistischen Graphik nachvollziehen, die nach der Befreiung auf dem ehemaligen Lagergelände gefunden wurde; veröffentlicht in: Piotr Setkiewicz: Zdziejów obozów IG Farben Werk Auschwitz 1941–1945. Oświęcim: Państwowe Muzeum Auschwitz-Birkenau 2006, S. 157–158.