Glossar

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Der autobiografische Roman Se questo è un uomo von Primo Levi (1958)

 a  „Dies ist die Hölle. Heute, in unserer Zeit, muß die Hölle so beschaffen sein, ein großer, leerer Raum, und müde stehen wir darin, und ein Wasserhahn ist da, und man kann das Wasser nicht trinken, und uns erwartete gewiß Schreckliches, und es geschieht nichts und noch immer geschieht nichts.“

(Primo Levi: Ist das ein Mensch? Erinnerungen an Auschwitz. Frankfurt am Main: Fischer 1961, S. 21.)

 

 b  „Nun bin ich also in der Tiefe. Vergangenheit und Zukunft auszulöschen lernt man rasch, wenn die Not drängt. Vierzehn Tage nach meiner Einlieferung habe ich schon den regelrechten Hunger, den chronischen Hunger, den die freien Menschen nicht kennen, der nachts Träume hervorruft und der in allen Gliedern unseres Körpers wohnt. Schon habe ich gelernt, mich nicht bestehlen zu lassen, und sehe ich einen Löffel, einen Bindfaden, einen Knopf herumliegen, den ich mir ungestraft aneignen kann, so stecke ich ihn ein und betrachte ihn mit vollem Recht als mein Eigentum. Schon habe ich auf meinen Fußrücken die stumpfen Wunden, die nicht heilen werden. Ich schiebe Waggons, ich arbeite mit der Schaufel, ich ermatte im Regen, ich zittere im Wind. Schon ist mein eigener Körper nicht mehr mein: der Bauch ist gedunsen, die Glieder sind verdorrt, das Gesicht ist am Morgen verschwollen und am Abend ausgehöhlt. Einige von uns haben ein gelbe Haut, andere eine graue; sehen wir uns einmal drei oder vier Tage nicht, erkennen wir uns kaum wieder.“

(Primo Levi: Ist das ein Mensch? Erinnerungen an Auschwitz. Frankfurt am Main: Fischer 1961, S. 36–37.)

 

 c  „An diesem Ort ist alles verboten. Nicht aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen, sondern weil das Lager zu diesem Zweck geschaffen wurde.“

(Primo Levi: Ist das ein Mensch? Erinnerungen an Auschwitz. Frankfurt am Main: Fischer 1961, S. 28.)

 

 d  „Für die Zivilisten sind wir in der Tat Unberührbare. Sie glauben – mehr oder weniger unverhüllt und mit allen Nuancen von Verachtung und Mitleid –, daß wir uns, um zu diesem Leben verurteilt worden zu sein, um auf diesen Zustand herabgesunken zu sein, mit wer weiß was für einer mysteriösen, ungeheuer schweren Schuld beladen haben. Sie hören uns in den verschiedensten Sprachen sprechen, die sie nicht verstehn und die in ihren Ohren grotesk, wie tierische Laute klingen; sie sehen uns auf das niedrigste versklavt, ohne Haar, ohne Ehre, ohne Namen, täglich geschlagen, täglich verworfner; niemals finden sie in unseren Augen auch nur eine Andeutung von Aufbegehren oder Friede oder Glaube. Sie kennen uns als diebisch, unzuverlässig, verdreckt, zerlumpt, ausgehungert und meinen, die Wirkung mit der Ursache verwechselnd, daß wir dieses Verworfensein verdient haben. Wer könnte unsere Gesichter unterscheiden? Wir sind für sie Kazet, Neutrum und Einzahl.“

(Primo Levi: Ist das ein Mensch? Erinnerungen an Auschwitz. Frankfurt am Main: Fischer 1961, S. 127.)

 

 e  Den Gegensatz illustriert die Beschreibung eines Tages, an dem Levi seinen Hunger mit zusätzlicher Suppe stillen kann: „Bei Sonnenuntergang pfeift die Sirene zum Feierabend. Und da wir alle wenigsten für ein paar Stunden satt sind, gibt es keinen Streit, wir fühlen uns seelengut. Dem Kapo ist nicht danach, uns zu schlagen, und wir bringen es fertig, an unsere Mütter und Frauen zu denken, was im allgemeinen nicht vorkommt; einige Stunden lang können wir unglücklich sein in der Weise der freien Menschen.“

(Primo Levi: Ist das ein Mensch? Erinnerungen an Auschwitz. Frankfurt am Main: Fischer 1961, S. 79–80.)

 

 f  „In der Tasche habe ich einen Zettel des Arbeitsdienstes, der besagt, daß der Häftling 174 517 als Facharbeiter Anspruch auf ein neues Hemd und neue Unterhosen hat und jeden Mittwoch rasiert werden muß. Das zerschlagene Buna liegt unter dem ersten Schnee, regungslos und steif, wie ein riesiger Leichnam. Täglich heulen die Sirenen Fliegeralarm; die Russen stehen achtzig Kilometer entfernt. Die Elektrozentrale steht still, die Methanol-Destilliersäulen existieren nicht mehr, die Gasometer des Azetylens sind in die Luft geflogen. In unser Lager strömen Tag für Tag die aus sämtlichen Lagern Ostpolens ‚geborgenen‘ Häftlinge; die wenigsten kommen zur Arbeit, die meisten wandern ohne weiteres nach Birkenau und durch den Kamin. Schon wieder ist die Ration verringert worden. Der KB quillt über; die E-Häftlinge haben Scharlach, Diphterie und Flecktyphus ins Lager gebracht. Aber der Häftling 174 517 ist zum Facharbeiter befördert worden und hat Anspruch auf ein neues Hemd und neue Unterhosen und muß jeden Mittwoch rasiert werden. Keiner maße sich an, die Deutschen zu begreifen.“

(Primo Levi: Ist das ein Mensch? Erinnerungen an Auschwitz. Frankfurt am Main: Fischer 1961, S. 145.)

„Ebenso wie unser Hunger nicht mit der Empfindung dessen zu vergleichen ist, der eine Mahlzeit verloren hat, verlangt auch unsere Art zu frieren nach einem eigenen Namen. Wir sagen ‚Hunger‘, wir sagen ‚Müdigkeit‘, ‚Angst‘ und ‚Schmerz‘, wir sagen ‚Winter‘, und das sind andere Dinge. Denn es sind freie Worte, geschaffen und benutzt von freien Menschen, die Freud und Leid in ihrem Zuhause erlebten. Hätten die Lager länger bestanden, wäre eine neue, harte Sprache geboren worden; man braucht sie einfach, um erklären zu können, was das ist, sich den ganzen Tag abzuschinden in Wind und Frost, nur mit Hemd, Unterhose, leinener Jacke und Hose am Leib, und in sich Schwäche und Hunger und das Bewußtsein des nahenden Endes.“[1]

 

In seinem autobiografischen Roman Se questo è un uomo (dt. Ist das ein Mensch?, 1961) beschreibt der italienische Überlebende Primo Levi seine Lagerhaft im KZ Buna/Monowitz. Beginnend mit seiner Verhaftung durch die faschistische Miliz im Dezember 1943 folgt der Text Primo Levis Erleben der darauffolgenden zwölf Monate Haft im nationalsozialistischen KZ Buna/Monowitz, sieben Kilometer östlich von Auschwitz. Mit seiner Ankunft im Lager betritt der Ich-Erzähler Primo Levi, promovierter Chemiker, eine Welt, an der im Folgenden seine Sprache versagt; nur mittels literarischer Bezüge auf Dantes Inferno vermag er, sie zu umreißen.  a  Nach der entwürdigenden Aufnahmeprozedur erkennt er, dass das Ziel des Ortes, an den sie gebracht wurden, die psychische und physische Vernichtung der Inhaftierten ist.  b  Immer mehr lernt der Häftling Levi, die ‚Nummer 174 517‘, über das Lager und seine unmenschlichen Bedingungen.  c 

 

Den Tagesablauf, Schwerstarbeit und Misshandlungen durch Häftlingsfunktionäre und SS-Männer, die zahllosen Schikanen bis in jeden Bereich des Lebens, die Selbstverständlichkeiten negieren, beschreibt Primo Levi genau und nachdenklich. Seine präzise Schilderung einzelner Begebenheiten und Routinen macht Sinnlosigkeit und Grausamkeit, die das Lager und den Umgang der Häftlinge miteinander prägen, erahnbar – und bezeichnet die Entfernung des ‚Lagers‘ von einer parallel existierenden ‚Normalität‘. Das Lager führt ihn, in Dantes Worten, „In die Tiefe“, in eine Hölle. Primo Levi denkt – ausdrücklich aus der Nachkriegsperspektive, von einem „wirklichen Heute“[2] aus – mögliche Interpretationen  d  seiner (damaligen) Situation mit. Distanz nimmt der Erzähler etwa in indirekt zitathaften Positionierungen ein: „Wußte ich denn nicht, daß […]?“[3] wundert sich der Erzähler Levi in der Rückschau über eigenes Missgeschick. Manchmal individualisiert der Erzähler sein Erleben aus der Ich-Perspektive, oft schreibt er jedoch aus der Gruppe der Häftlinge heraus („wir“), die, mit Nummern benannt und gezählt nach „Stück“, von der SS entmenschlicht wurden: „[W]ir sind nichts anderes als müde Tiere.“[4]  e  Primo Levi überlebt die schweren Arbeitskommandos, bis er im November 1944 als Chemiker in ein Facharbeiterkommando aufgenommen wird.  f  Bis Januar 1945 ‚darf‘ er im wettergeschützten Labor arbeiten, bis er an Scharlach erkrankt und, im Krankenbau zurückgelassen, die Befreiung des Lagers durch die Rote Armee erlebt.

 

Ist das ein Mensch? erhält seinen Titel von einem gleichnamigen Gedicht Primo Levis, das vehement das Gedenken an die unmenschlichen deutschen Konzentrationslager, an Auschwitz, einfordert. Primo Levi selbst schrieb das Buch, sein erster literarischer und sein zweiter Text über Auschwitz, nach einem Bericht über die medizinischen Verhältnisse im KZ Buna/Monowitz, aus dem Bestreben, „Zeugnis abzulegen und […] denjenigen, die den Letzten erhängten, und ihren Erben zu ‚antworten‘“[5]. Er wirft dabei wesentliche Fragen nach der Möglichkeit, das Unvorstellbare zu bezeugen, auf. 30 Jahre später kam Primo Levi explizit auf diese Fragen zurück, in I sommersi e i salvati (1986, dt. Die Untergegangen und die Geretteten, 1990) formuliert er:

 

„Nicht wir, die Überlebenden, sind die wirklichen Zeugen. Das ist eine unbequeme Einsicht, die mir langsam bewußt geworden ist, während ich die Erinnerungen anderer las und meine eigenen nach einem Abstand von Jahren wiedergelesen habe. Wir Überlebenden sind nicht nur eine verschwindend kleine, sondern auch eine anomale Minderheit: wir sind die, die aufgrund von Pflichtverletzung, aufgrund ihrer Geschicklichkeit oder ihres Glücks den tiefsten Punkt des Abgrunds nicht berührt haben.“[6]

 

Ist das ein Mensch? kann als Ausgangspunkt und Referenztext für Levis gesamte schriftstellerische Arbeit gesehen werden und diente, wie die literarisierten Überlebensberichte etwa Jean Amérys oder Elie Wiesels, als Referenz zahlreicher Interpretationen und kulturwissenschaftlicher wie philosophischer Überlegungen.

 

Se questo è un uomoerschien 1947 erstmals bei De Silva, eine nennenswerte Verbreitung erfuhr jedoch erst die zweite Auflage, die mit Erweiterungen 1958 bei Einaudi herauskam und Grundlage der zahlreichen Übersetzungen in viele Sprachen ist.

(SP)



Literatur

Benchouiha, Lucie: Primo Levi. Rewriting the Holocaust. Leicester: Troubador 2006.

Levi, Primo: Si questo è un uomo. Torino: Einaudi 1958.

Levi, Primo: Ist das ein Mensch? Erinnerungen an Auschwitz. Frankfurt am Main: Fischer 1961.

Levi, Primo: I sommersi e i salvati. Torino: Einaudi 1986.

Levi, Primo: Die Untergegangenen und die Geretteten. München/Wien: Hanser 1991.

Levi, Primo / Debenedetti, Leonardo: Bericht über die hygienisch-gesundheitliche Organisation des Konzentrationslagers für Juden in Monowitz (Auschwitz – Oberschlesien). In: Primo Levi: Bericht über Auschwitz. Hg. v. Philippe Mesnard. Berlin: BasisDruck 2006, S. 59–96.

[1] Primo Levi: Ist das ein Mensch? Erinnerungen an Auschwitz. Frankfurt am Main: Fischer 1961, S. 129.

[2] Levi: Ist das ein Mensch, S. 108.

[3] Levi: Ist das ein Mensch, S. 49.

[4] Levi: Ist das ein Mensch, S. 45.

[5] Primo Levi: Brief an den Übersetzer. In: Ders.: Ist das ein Mensch, S. 8–9, hier S. 8.

[6] Primo Levi: Die Untergegangenen und die Geretteten. München/Wien: Hanser 1991, S. 83.