Glossar

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Die Rezeption von Primo Levis Texten

 a  „Whereas in Europe Levi’s supposed Christian characteristics made him the ideal survivor, in the United States his publishers feared that he was not ‘Jewish’ enough and therefore would not reach his principal audience [...] Instead of the marginalized Levi, the iconic survivor of the Holocaust in the United States was Elie Wiesel, whose religiosity and popularism set the terms for the reception of Holocaust memoirs in America.“

(Bryan Cheyette: Appropriating Primo Levi. In: Robert S. C. Gordon (Hg.): The Cambridge Companion to Primo Levi. Cambridge: Cambridge UP 2007, S. 67–85, hier S. 74–75.)

 

 b  „Yes, we practiced religion even in a death camp. I said my prayers every day. On Saturday I hummed Shabbat songs at work, in part, no doubt, to please my father, to show him I was determined to remain a Jew even in the accursed kingdom. My doubts and my revolt gripped me only later.

Why so much later? My comrade and future friend Primo Levi asked me that question. How did I surmount these doubts and this revolt? He refused to understand how I, his former companion of Auschwitz III, could still call himself a believer, for he, Primo, was not and didn’t want to be. He had seen too much suffering not to rebel against any religion that sought to impose a meaning upon it. I understood him, and asked him to understand me, for I had seen too much suffering to break with the past and reject the heritage of those who had suffered. We spent many hours arguing, with little result. We were equally unwavering, for we came from different milieus, and even in Auschwitz led different lives. He was a chemist; I was nothing at all. The system needed him, but not me. He had influential friends to help and protect him; I had only my father. I needed God, Primo did not.“

(Elie Wiesel: All Rivers Run to the Sea. Memoirs, Vol. One 1928–1969. London: HarperCollins 1996, S. 82–83.)

 

 c  „In seiner Form stellt es [Agambens Buch] sozusagen eine Art fortlaufenden Kommentars zum Zeugnis dar [...] An einem bestimmten Punkt zeigte sich jedoch, daß das Zeugnis in sich als einen wesentlichen Teil eine Lücke enthielt: die Überlebenden legten Zeugnis ab für etwas, das nicht bezeugt werden konnte. Ihr Zeugnis zu kommentieren bedeutete dabei notwendig, jene Lücke zu befragen – oder besser: zu versuchen, ihr zuzuhören.“

(Giorgio Agamben: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 8–9.)

 

 d  Agamben feiert den Zeugen als Ikone, dem an einigen Stellen Nichtigkeiten untergeschoben werden: „‚Der Muselmann ist der vollständige Zeuge‘ – wenn wir dies ‚Levis Paradox‘ nennen, dann wird das Verstehen von Auschwitz – wenn es überhaupt ein Verstehen geben kann – zusammenfallen von Sinn und Nicht-Sinn dieses Paradoxons.“

(Giorgio Agamben: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 72.)

 

 e  Tzvetan Todorov beschreibt, dass, nach Levis Empfinden, die Erfahrung von Menschsein im Lager gewesen sei, Kraft zum Widerstand aufgebracht zu haben; daraus leitet Todorov ein dreifaches Schamgefühl des Überlebenden ab: „Diese Scham, Gegenstand von Demütigungen und Beleidigungen gewesen zu sein[…], die Scham, überlebt zu haben[…,] die Scham, ein Mensch zu sein.“

(Tzvetan Todorov: Angesichts des Äussersten. München: Fink 1993, S. 286–287.)

„Seit Auschwitz waren erst fünfzehn Jahre vergangen. Die Deutschen, die mich lesen würden, waren ‚jene‘, nicht ihre Erben. Aus Überwältigern oder teilnahmslosen Zuschauern würden sie zu Lesern werden. Ich würde sie gefesselt vor einen Spiegel zerren. Jetzt war die Stunde der Abrechnung gekommen, der Augenblick, in dem die Karten auf den Tisch gelegt werden mußten. Vor allem aber: Die Stunde des Miteinandersprechens.“[1]

 

Mitte der 1970er Jahre war das bekannteste von Primo Levis Büchern, Se questo è un uomo (dt. Ist das ein Mensch?), in sieben Sprachen übersetzt. Dieser und auch seine weiteren Texte erfuhren ab diesem Zeitpunkt eine breite Rezeption. Während Levi in seinem Verzicht auf Verurteilung einer Tätergruppe gleichsam zur Christusfigur stilisiert wurde, prägte seine reflektierte Annäherung und Beschreibung der Vorgänge in Auschwitz die Wahrnehmung des Holocaust Literaturinteressierter in ganz Europa. Diese Rezeption beobachtete der Autor aufmerksam und nahm aktiv daran teil; insbesondere von der Aufnahme von Ist das ein Mensch? in Deutschland erhoffte sich Levi Verständnis von und Dialog mit „den Deutschen“. In I sommersi e i salvati (dt. Die Untergegangen und die Geretteten) beschreibt er die Schwierigkeiten dieses Dialogs, wie er ihn in Briefen mit deutschen Lesenden führte: Die rund vierzig Briefe, die ihn aus Deutschland erreichten, kamen hauptsächlich von jüngeren Leser/innen.

 

„[S]ie sind um so nichtssagender, je neueren Datums sie sind: die Schreiber sind inzwischen die Kinder und Enkel, das Trauma betrifft sie nicht mehr, sie haben es nicht am eigenen Leib erfahren. Sie bringen eine vage Solidarität, Unwissenheit und Distanz zum Ausdruck. Für sie ist jene Vergangenheit wirklich Vergangenheit, eine Zeit, die sie vom Hörensagen kennen.“[2]

 

Levis Texte wurden in den Kanon der Holocaust-Literatur integriert und fanden in verschiedenen Disziplinen Beachtung: „His work has been used to engage with the issues of ethics, humanism and perpetrator history after the Nazi genocide and has, in particular, been incorporated into theoretical readings of the Holocaust.“[3]

 

Diese Sonderposition wurde ihm und seinen Büchern jedoch vor allem in Europa zuteil; in den USA erreichten Primo Levis Bücher erst ab Mitte der 1980er Jahre eine breitere Leserschaft. Das hatte mehrere Gründe  a : seine areligiösen Tendenzen ließen seinen Verleger um den Zuspruch der größten Publikumsgruppe fürchten, und der ‚Platz‘ des ikonographischen Holocaust-Überlebenden, des „principal interpreter of the Holocaust“[4] in der öffentlichen Wahrnehmung war bereits durch Elie Wiesel besetzt.  b  Levi wurde als Autor reinster, essentiellster Texte gehuldigt, etwa durch den Schriftsteller Saul Bellow, und zu Beginn seiner Lesereise 1985 kündigte die International Herald Tribune Primo Levi als „the Jewish equivalent of a saint“[5] an.

 

Die Prägnanz von Levis Texten, ihre stilistische Klarheit und Reflexivität wurden jedoch auch europäische Rezipienten nicht müde zu betonen; Levis Texte zählen zu den am häufigsten zitierten Berichten Holocaust-Überlebender. Sie stehen in zahlreichen Sekundärtexten für die Beschreibung von Auschwitz schlechthin und werden – in Wiederholung von Levis Betonung seiner Selbstverpflichtung zur Zeugenschaft – gelesen, analysiert und aufgenommen. Dabei besteht die Gefahr der Vereinfachung insbesondere dort, wo Levis immer wieder betonte Skepsis gegenüber der Position des Zeugen außer Acht gelassen wird, wo „anyone, who adapts Levi, in whatever form, ‚fulfils the testimonial imperative of Levi’s writing‘.“[6]

 

Einen anderen Weg geht Giorgio Agamben in seiner homo-sacer-Trilogie[7]: Für sein aufsehenerregendes Buch Quel che resta di Auschwitz (dt. Was von Auschwitz bleibt) dienten ebenfalls Aussagen Primo Levis – ein „perfektes Beispiel des Zeugen“[8] – als fundamentale Grundlage.  c  Während jedoch Levi schreibt, um zu erinnern, bezweifelt Agamben die Möglichkeit sprachlichen Zeugnisses und mystifiziert damit nicht nur den Zeugen, sondern auch ‚Auschwitz‘.  d  Zugleich liest Agamben Levis Zeugnis in Bestätigung seiner These des ‚Lagers als Paradigma der Moderne‘[9], er stilisiert Auschwitz zum Abbild menschlichen Lebens und darin etwa den ‚Muselmann‘ zum Bild des verfallenden Menschen schlechthin. Implizit behauptet er damit das NS-Gesellschaftsideal als Ur-Abbild menschlichen So-Seins auf der Basis von Primo Levis Zeugnis. Versuchen, ständige konfliktgeladene und gewaltsame Auseinandersetzung zur Basis menschlicher Beziehungen zu erklären, wiedersprach Levi selbst vehement: „Es ist gesagt worden, daß Konflikte notwendig seien: Die Spezies Mensch könne ohne sie nicht auskommen. Das ist obszön.“[10]

 

Daneben fand Levis Konzept der „Grauzone“, der Position zwischen Leben und Tod, wie sie die Häftlinge des Sonderkommandos einnahmen, breiten Widerhall in der Forschung: Neben Agamben nahmen es auch die Historiker Daniel Goldhagen und Christopher Browning auf. Während jedoch Browning Levi in seiner Ablehnung einer klar umrissenen Gut-Böse-Unterscheidung folgt, setzt Goldhagens Untersuchung eine klare Unterscheidung zwischen Opfer und Täter voraus.

 

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die Rezeption der Texte Primo Levis (und auch seiner Person, die stets zentral war) um die Frage nach dem Sprechen über die Konzentrationslager und die Bewertung der Aussagen von Augenzeugen dreht. Der Philosoph Tzvetan Todorov liest Berichte, darunter diejenigen Levis, „um herauszuarbeiten, vor welche Probleme sich die gestellt sehen, die heute – und nicht im Augenblick ihrer Existenz – über die Lager sprechen und versuchen, Lehren für uns daraus zu ziehen.“[11] Todorov fragt nach moralischen Implikationen der Lagererfahrung für die Überlebenden nach dem Überleben und knüpft an Levis Aussagen Überlegungen zu Scham und Schuldempfinden.  e  In Überspitzung von Aussagen aus mehreren Überlebensberichten formuliert er eine Annäherung an ihre ‚Schuld‘, wie sie Überlebende wahrnähmen: „Die Kameraden aus dem Lager sind umsonst gestorben; da es den Überlebenden nicht gelungen ist, die Welt zu verändern, haben sie die toten Mithäftlinge verraten.“[12]

 

Die hier nur in sehr verknappter Form darstellbaren Interpretationsansätze verweisen in einer Doppelbewegung auf unterschiedliche Annäherungsweisen an die Texte Primo Levis und umgekehrt ihren Einfluss auf die Geisteswissenschaften. Levis Bücher dienen insbesondere in Europa häufig als Ausgangspunkt für Fragen nach Zeugenschaft und ihrer Bedeutung für das Verständnis des Holocaust.

(SP)



Literatur

Agamben, Giorgio: Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002.

Agamben, Giorgio: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003.

Browning, Christopher: Ganz normale Männer: das Reserve-Polizeibataillon 101 und die "Endlösung" in Polen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1996.

Cheyette, Bryan: Appropriating Primo Levi. In: Robert S. C. Gordon (Hg.): The Cambridge Companion to Primo Levi. Cambridge: Cambridge UP 2007, S. 67–85.

Goldhagen, Daniel: Hitlers willige Vollstrecker. München: Goldmann 2000.

Gordon, Robert S. C. (Hg.): The Cambridge Companion to Primo Levi. Cambridge: Cambridge UP 2007.

Levi, Primo: Ist das ein Mensch? Erinnerungen an Auschwitz. Frankfurt am Main: Fischer 1961.

Levi, Primo: Die Untergegangenen und die Geretteten. München/Wien: Hanser 1991.

Todorov, Tzvetan: Angesichts des Äussersten. München: Fink 1993.

[1] Primo Levi: Die Untergegangenen und die Geretteten. München/Wien: Hanser 1991, S. 172.

[2] Levi: Die Untergegangenen, S. 179.

[3] Bryan Cheyette: Appropriating Primo Levi. In: Gordon, Robert S. C. (Hg.): The Cambridge Companion to Primo Levi. Cambridge: Cambridge UP 2007, S. 67–85, hier S. 79.

[4] Cheyette: Appropriating, S. 76.

[5] Zit. n. Cheyette: Appropriating, S. 76.

[6] Cheyette: Appropriating, S. 80.

[7] Der Zyklus umfasst Homo Sacer (Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007), Ausnahmezustand (Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006) und Was von Auschwitz bleibt (Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005); interessanterweise wurde das dritte Buch, Was von Auschwitz bleibt, als erstes in Deutsche übersetzt.

[8] Giorgio Agamben: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 13.

[9] Eine Kernthese aus Giorgio Agamben: Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002.

[10] Levi: Die Untergegangenen, S. 206.

[11] Tzvetan Todorov: Angesichts des Äussersten. München: Fink 1993, S. 282.

[12] Todorov: Angesichts, S. 288–289.