„Muselmänner”
(Primo Levi: Ist das ein Mensch? Erinnerungen an Auschwitz. Frankfurt am Main: S. Fischer 1961, S. 94.)
Gelegentlich beschleunigt ein deus ex machina, SS-Mann, Kapo, Blockältester, das Geschehen durch eine Kugel, einen Schlag mit der Spitzhacke, einem Knüppel. Zuweilen, aber das ist selten der Fall, holt er einen von uns aus dem Massengrab, wie man später einen Pinguin oder einen ölverschmierten Seehund aussortiert, ihn wäscht, ihn pflegt, ihn füttert, um zu sehen, ob er sich erholt und überlebt.
Und diese absurde, mefitische Welt erscheint mir so klar und einleuchtend, als ob nie etwas anderes existiert hätte. Ich habe keine Angst, nicht mehr, als ich Fragen habe. Alles ergibt sich von selbst. Ich bin in dem Alter, wo man sich anpaßt, und ich haushalte mit allem, indem ich die moralische Qual, die Gefühle, die Erinnerungen und auch das Bedauern ausschalte, ein lebenswichtiges Gebot. Eine Verschwendung, seine Zuneigung Schatten auf Abruf zu gewähren. Warum sich die Belastung eines weinenden Morgen aufbürden? Vielleicht kommt ein Tag, wo es, wenn ich leben sollte, wieder einen Platz gibt, erneut zu lieben, sofern man nicht völlig abgestumpft ist.“
(Paul Steinberg: Chronik aus einer dunklen Welt. Ein Bericht. Aus dem Französischen von Moshe Kahn. München: Hanser 1998, S. 77.)
(Kuraszkiewicz 1947, S. 22–23, in: Zdziław Ryn / Stanisław Kłodziński: An der Grenze zwischen Leben und Tod. Eine Studie über die Erscheinung des „Muselmanns“ im Konzentrationslager [1983]. In: Die Auschwitz-Hefte Band 1. Texte der polnischen Zeitschrift „Pzregląd Lekarski“ über historische, psychische und medizinische Aspekte des Lebens und Sterbens in Auschwitz. Hg. vom Hamburger Institut für Sozialforschung. Hamburg: Rogner & Bernhard 1994, S. 89–154, hier S. 101.) [Vermutlich kein Zitat eines Monowitz-Überlebenden]
„Der sogenannte ‚Muselmann‘, wie die Lagersprache den sich aufgebenden und von den Kameraden aufgegebenen Häftling nannte, hatte keinen Bewußtseinsraum mehr, in dem Gut oder Böse, Edel oder Gemein, Geistig oder Ungeistig sich gegenüberstehen konnten. Er war ein wankender Leichnam, ein Bündel physischer Funktionen in den letzten Zuckungen.“[1]
Als ‚Muselmann‘[2] wurden in der Lagersprache Häftlinge bezeichnet, die durch Hunger, Kälte, Krankheit und Erschöpfung so ausgezehrt waren, dass sie ihrer Umwelt gegenüber apathisch wurden; ihre Aufmerksamkeit galt allein noch der Möglichkeit von Essen, manchmal auch dem Schutz vor Kälte. Zdziław Ryn und Stanisław Kłodziński, die 1983 eine ausführliche Untersuchung des ‚Muselmanentums‘ auf der Grundlage einer Befragung von Überlebenden von Auschwitz veröffentlichten, nennen „quantitative und qualitative Unterernährung, übermäßige körperliche Arbeit, schädliche Wirkung der Kleidung und unhygienische Lebensbedingungen“[3] als Faktoren, die einen Häftling zum Muselmann werden ließen. Die Muselmänner litten an Auszehrung und verloren ihre Arbeitskraft, sie nahmen eine krumme steife Haltung an und gingen schlurfend, mit kleinen unsicheren Schritten, auf Grund körperlicher Schwäche fielen sie leicht hin, verletzten sich. Sie hörten auf, sich um persönliche Hygiene zu sorgen und verwahrlosten in schmutzigen Lumpen, sie hatten Phlegmone und offene Wunden am Körper. Mit ihren angsterfüllten oder ausdruckslosen Augen in grauen aufgedunsenen Gesichtern hoben sich die Muselmänner in ihrem noch elenderen Erscheinungsbild von der Gemeinschaft der Häftlinge ab. „Nur die Augen sagten ab und zu etwas, sie reagierten noch. Das waren Menschen, die das Schicksal am meisten benachteiligt hatte, die Unglücklichsten aller Unglücklichen.“[4]
Ryn und Kłodziński beschreiben das Muselmanentum einerseits als Hungerkrankheit, bei der sich ein gewisser Grad der Aushungerung als irreversibel erwies und die zu seelischer Abstumpfung, einer Einengung der psychischen Interessen, verlangsamtem Denken, Gedächtnisverlust und Gleichgültigkeit gegenüber der Umwelt führte
Vor allem junge, alte und kranke Häftlinge waren anfällig, Muselmänner zu werden, aber auch diejenigen, die Glauben und Hoffnung in eine moralische oder religiöse Ordnung der Welt im Lager verloren und damit sich selbst verloren gaben. Ryn und Kłodziński sehen die Fähigkeit eines Häftlings, mit der Welt seiner Vergangenheit schnell zu brechen und sich auf die Situationen des Lagers einzustellen, trotz aller Traumatisierungen, die diese hervorriefen, als entscheidend an, ob jemand zum Muselmann wurde oder sich davor bewahren konnte. Wer sich im Lager keine Kontakte aufbauen konnte, um sich zusätzliches Essen einzutauschen, in ein besseres Kommando zu gelangen oder anders seine Lebensbedingungen gegenüber der Mehrheit der Häftlinge zu verbessern, der wurde bald zum Muselmann. „Das Muselmanentum war ein Bruch jeglicher Bindungen an die Umgebung, es war vor allem der gesellschaftliche Tod, denn das biologische Leben glimmte weiter; Muselmann zu sein war ein Symptom des Todes.“[6]
Obwohl die Muselmänner einen großen Anteil der Häftlinge im Lager stellten, nahmen sie doch keinen Anteil mehr am Leben der Häftlingsgemeinschaft, für Widerstandsgruppen oder andere Gruppen von Häftlingen, die sich gegenseitig halfen, waren sie uninteressant, da sie nichts mehr beisteuern konnten. Sie standen auf der untersten Stufe der Häftlingshierarchie, andere Häftlinge versuchten, ihnen auszuweichen oder nicht in einem Kommando mit ihnen arbeiten zu müssen; manchmal wurden sie schon wie Tote, wie Gegenstände behandelten. Doch versuchten auch einzelne Häftlinge, Muselmänner durch Essen und freundschaftliche Unterstützung ins Leben zurückzuholen, ihnen zu helfen, mit den Traumatisierungen weiterzuleben.
Die Apathie und Schicksalsergebenheit der Muselmänner weckte bei vielen Kapos Hassgefühle, so dass sie deren Willkür besonders ausgesetzt waren. Auch führte die Unaufmerksamkeit der Muselmänner gegenüber ihrer Umwelt, gegenüber Erlaubtem, Verbotenem und Befohlenem – z.B. rechtzeitig die Mütze zu ziehen – und den andauernden Drohungen des Lagerlebens, denen auszuweichen ihnen nicht mehr gelang, zu Zusammenstößen mit SS-Männern und Funktionshäftlingen, die sie schlugen oder töteten. Die Muselmänner waren in vielen Fällen so ausgehungert, dass verstandesmäßige Handlungsorientierungen, die sie hätten schützen können, außer Kraft gesetzt waren. Verbliebene Aufmerksamkeit, Wille und Interesse waren häufig allein noch auf die Suche nach Essen gerichtet.
In Buna/Monowitz waren Muselmänner eine alltägliche Erscheinung, besonders in schweren Kommandos. Die SS interpretierte ihre Apathie und Schwäche häufig als Faulheit und ging deshalb besonders brutal gegen sie vor, während die Werksleitung der I.G. Farben auf Selektionen drängte. Der Arbeitseinsatz und die Lebensbedingungen führten im Schnitt bei 4/5 aller Häftlinge mehr oder weniger schnell zu einer derartigen Entkräftung. „Der Muselmann war ‚Produkt‘ der Todesfabrik Konzentrationslager.“[7]
(MN)