Glossar

Fahren Sie mit der Maus über ein rotes Wort im Haupttext, um den Glossareintrag für dieses Wort zu sehen.

„Muselmänner”

 a  „Unterliegen ist am Leichtesten: dazu braucht man nur alles auszuführen, was befohlen wird, nichts zu essen als die Ration und die Arbeits- und Lagerdisziplin zu befolgen. Die Erfahrung hat gezeigt, daß man solcherart nur in Ausnahmefällen länger als drei Monate durchhalten kann. Alle Muselmänner, die im Gas enden, haben die gleiche Geschichte, besser, sie haben gar keine Geschichte; sie sind dem Gefälle gefolgt bis in die Tiefe, ganz natürlich, wie die Bäche, die schließlich im Meer enden. Im Lager kamen sie auf Grund der ihnen eigenen Untüchtigkeit oder durch Unglück oder durch irgendeinen banalen Umstand zu Fall, noch bevor sie sich hätten anpassen können; sie konnten mit der Zeit nicht Schritt halten, und sie fangen erst dann an, Deutsch zu lernen und sich ein wenig in dem infernalischen Durcheinander von Geboten und Verboten zurechtzufinden, wenn ihr Körper schon in Auflösung begriffen ist und sie nichts mehr vor der Selektion oder dem Erschöpfungstod bewahren könnte. Ihr Leben ist kurz, doch ihre Zahl ist unendlich. Sie, die Muselmänner, die verlorenen, sind der Nerv des Lagers: sie, die anonyme, die stets erneuerte und immer identische Masse schweigend marschierender und sich abschuftender Nichtmenschen, in denen der göttliche Funke erloschen ist und die schon zu ausgehöhlt sind, um wirklich zu leiden. Man zögert, sie als Lebende zu bezeichnen; man zögert, ihren Tod, vor dem sie nicht erschrecken, als Tod zu bezeichnen, weil sie zu müde sind, ihn zu fassen.“

(Primo Levi: Ist das ein Mensch? Erinnerungen an Auschwitz. Frankfurt am Main: S. Fischer 1961, S. 94.)

 

 b  „Unser Fleisch und unsere Muskeln schwinden, unsere Zähne werden locker, unsere Eingeweide lösen sich auf, unsere Verletzungen werden schlimmer, und wir sterben, sterben, sterben.

Gelegentlich beschleunigt ein deus ex machina, SS-Mann, Kapo, Blockältester, das Geschehen durch eine Kugel, einen Schlag mit der Spitzhacke, einem Knüppel. Zuweilen, aber das ist selten der Fall, holt er einen von uns aus dem Massengrab, wie man später einen Pinguin oder einen ölverschmierten Seehund aussortiert, ihn wäscht, ihn pflegt, ihn füttert, um zu sehen, ob er sich erholt und überlebt.

Und diese absurde, mefitische Welt erscheint mir so klar und einleuchtend, als ob nie etwas anderes existiert hätte. Ich habe keine Angst, nicht mehr, als ich Fragen habe. Alles ergibt sich von selbst. Ich bin in dem Alter, wo man sich anpaßt, und ich haushalte mit allem, indem ich die moralische Qual, die Gefühle, die Erinnerungen und auch das Bedauern ausschalte, ein lebenswichtiges Gebot. Eine Verschwendung, seine Zuneigung Schatten auf Abruf zu gewähren. Warum sich die Belastung eines weinenden Morgen aufbürden? Vielleicht kommt ein Tag, wo es, wenn ich leben sollte, wieder einen Platz gibt, erneut zu lieben, sofern man nicht völlig abgestumpft ist.“

(Paul Steinberg: Chronik aus einer dunklen Welt. Ein Bericht. Aus dem Französischen von Moshe Kahn. München: Hanser 1998, S. 77.)

 

 c  „Der Gegensatz zum Prominenten oder Kalfaktor war der Muselmann. Das war das letzte Lagerelend. Der Häftling fürchtete diese Gebrechlichkeit, das Muselmanentum, mehr als eine Krankheit, denn es war eigentlich die verbreiteste Lagerkrankheit. Die meisten Menschen starben eben gerade als Muselmänner. Die Muselmänner zogen alle Flüche und Schikanen der Machthaber auf sich. Sie wurden bei den Selektionen als unbrauchbarer Mist fürs Krematorium ausgesucht. Überall waren sie allen im Weg, sie waren immer die letzten – gestoßen, geschlagen, mißhandelt, bestohlen und erniedrigt. Ins Revier nahm man sie nicht auf, weil sie kein hohes Fieber hatten; ihre Krankheit war nicht ansteckend. Und im Lager war nur Platz für die Gesunden, die Gewitzten und Kräftigen. Eigentlich war jeder ständig in Gefahr, zum Muselmann zu werden, dazu brauchte es gar keinen besonderen Anlaß. Es genügte, sich ein bißchen zu erkälten oder den Fuß im Schuh wundzuscheuern, das erste Geschwür zu bekommen oder einfach einmal geistesabwesend zu sein und so einem SS-Mann oder Prominenten bei der Arbeit oder im Block aufzufallen – dann gab es die ersten Schläge. Wer geschwächt ist oder geprügelt wurde, arbeitet nicht so gut wie die anderen, er behindert das Arbeitstempo, also wird er wieder bestraft. Bei der Kollektivstrafe der Deutschen wurden alle für einen bestraft, also mied jeder die Muselmänner. Der Muselmann bekam keine bessere ständige Arbeit; man heuerte ihn jeden Tag für eine andere Arbeit an, wo er die Arbeitsportionen, d.h. die Brotzulage, nicht erhielt. Er kam erschöpfter und schmutziger von der Arbeit zurück als die anderen; immer zurückgedrängt gelang es ihm oft nicht, die Mittagssuppe vor dem Gong zu essen, und abends hatte er nicht die Kraft, seine Kleidung zu reinigen oder zu flicken oder die Holzschuhe auszubessern, was eine erneute Katastrophe nach sich zog. Er bekam gewöhnlich Geschwüre und Hungerödeme, war immer schmutzig, verwahrlost, meckerig, unerträglich und merkte dabei gar nicht, daß er stank und verrottete. Wohl aus diesem Grunde jagte man sie auch zum Schlafen aufs Klo oder in den Waschraum. Schließlich stumpfte er ab, er verblödete, verlor die Willenskraft und hatte keine Kontrolle mehr über sich – das typische Bild des Muselmanns. Wenn er dazu noch Raucher war und sein Brot für Machorka weggab, starb er schnell. Sehr oft verursachte die Ruhr eine Muselmann-Epidemie. Nur gute Freunde konnten einen davor retten, zum Muselmann zu werden.“

(Kuraszkiewicz 1947, S. 22–23, in: Zdziław Ryn / Stanisław Kłodziński: An der Grenze zwischen Leben und Tod. Eine Studie über die Erscheinung des „Muselmanns“ im Konzentrationslager [1983]. In: Die Auschwitz-Hefte Band 1. Texte der polnischen Zeitschrift „Pzregląd Lekarski“ über historische, psychische und medizinische Aspekte des Lebens und Sterbens in Auschwitz. Hg. vom Hamburger Institut für Sozialforschung. Hamburg: Rogner & Bernhard 1994, S. 89–154, hier S. 101.) [Vermutlich kein Zitat eines Monowitz-Überlebenden]

„Der sogenannte ‚Muselmann‘, wie die Lagersprache den sich aufgebenden und von den Kameraden aufgegebenen Häftling nannte, hatte keinen Bewußtseinsraum mehr, in dem Gut oder Böse, Edel oder Gemein, Geistig oder Ungeistig sich gegenüberstehen konnten. Er war ein wankender Leichnam, ein Bündel physischer Funktionen in den letzten Zuckungen.“[1]

 

Als ‚Muselmann‘[2] wurden in der Lagersprache Häftlinge bezeichnet, die durch Hunger, Kälte, Krankheit und Erschöpfung so ausgezehrt waren, dass sie ihrer Umwelt gegenüber apathisch wurden; ihre Aufmerksamkeit galt allein noch der Möglichkeit von Essen, manchmal auch dem Schutz vor Kälte. Zdziław Ryn und Stanisław Kłodziński, die 1983 eine ausführliche Untersuchung des ‚Muselmanentums‘ auf der Grundlage einer Befragung von Überlebenden von Auschwitz veröffentlichten, nennen „quantitative und qualitative Unterernährung, übermäßige körperliche Arbeit, schädliche Wirkung der Kleidung und unhygienische Lebensbedingungen“[3] als Faktoren, die einen Häftling zum Muselmann werden ließen. Die Muselmänner litten an Auszehrung und verloren ihre Arbeitskraft, sie nahmen eine krumme steife Haltung an und gingen schlurfend, mit kleinen unsicheren Schritten, auf Grund körperlicher Schwäche fielen sie leicht hin, verletzten sich. Sie hörten auf, sich um persönliche Hygiene zu sorgen und verwahrlosten in schmutzigen Lumpen, sie hatten Phlegmone und offene Wunden am Körper. Mit ihren angsterfüllten oder ausdruckslosen Augen in grauen aufgedunsenen Gesichtern hoben sich die Muselmänner in ihrem noch elenderen Erscheinungsbild von der Gemeinschaft der Häftlinge ab. „Nur die Augen sagten ab und zu etwas, sie reagierten noch. Das waren Menschen, die das Schicksal am meisten benachteiligt hatte, die Unglücklichsten aller Unglücklichen.“[4]

 

Ryn und Kłodziński beschreiben das Muselmanentum einerseits als Hungerkrankheit, bei der sich ein gewisser Grad der Aushungerung als irreversibel erwies und die zu seelischer Abstumpfung, einer Einengung der psychischen Interessen, verlangsamtem Denken, Gedächtnisverlust und Gleichgültigkeit gegenüber der Umwelt führte  a , andererseits konnte die Traumatisierung der Häftlinge durch den grausamen und brutalen Alltag des KZ, das allgegenwärtige Misshandeln und Morden durch die SS, in die Aufgabe jeglicher Lebenshoffnungen und -wünsche führen und so einen Häftling zum Muselmann werden lassen. „Der Tod konnte aufgrund psychischer Überlastung eintreten.“[5] Mancher Häftling, der sich selbst aufgab, beging Selbstmord, bevor er zum Muselmann wurde, z.B. indem er in den elektrischen Zaun, der das KZ Buna/Monowitz umgab, lief. Doch waren die meisten Muselmänner dafür schon zu apathisch. Sie starben im Lager oder auf der Baustelle oder wurden von der SS selektiert und nach Birkenau in die Gaskammern geschickt.

 

Vor allem junge, alte und kranke Häftlinge waren anfällig, Muselmänner zu werden, aber auch diejenigen, die Glauben und Hoffnung in eine moralische oder religiöse Ordnung der Welt im Lager verloren und damit sich selbst verloren gaben. Ryn und Kłodziński sehen die Fähigkeit eines Häftlings, mit der Welt seiner Vergangenheit schnell zu brechen und sich auf die Situationen des Lagers einzustellen, trotz aller Traumatisierungen, die diese hervorriefen, als entscheidend an, ob jemand zum Muselmann wurde oder sich davor bewahren konnte. Wer sich im Lager keine Kontakte aufbauen konnte, um sich zusätzliches Essen einzutauschen, in ein besseres Kommando zu gelangen oder anders seine Lebensbedingungen gegenüber der Mehrheit der Häftlinge zu verbessern, der wurde bald zum Muselmann. „Das Muselmanentum war ein Bruch jeglicher Bindungen an die Umgebung, es war vor allem der gesellschaftliche Tod, denn das biologische Leben glimmte weiter; Muselmann zu sein war ein Symptom des Todes.“[6]  b 

 

Obwohl die Muselmänner einen großen Anteil der Häftlinge im Lager stellten, nahmen sie doch keinen Anteil mehr am Leben der Häftlingsgemeinschaft, für Widerstandsgruppen oder andere Gruppen von Häftlingen, die sich gegenseitig halfen, waren sie uninteressant, da sie nichts mehr beisteuern konnten. Sie standen auf der untersten Stufe der Häftlingshierarchie, andere Häftlinge versuchten, ihnen auszuweichen oder nicht in einem Kommando mit ihnen arbeiten zu müssen; manchmal wurden sie schon wie Tote, wie Gegenstände behandelten. Doch versuchten auch einzelne Häftlinge, Muselmänner durch Essen und freundschaftliche Unterstützung ins Leben zurückzuholen, ihnen zu helfen, mit den Traumatisierungen weiterzuleben.

 

Die Apathie und Schicksalsergebenheit der Muselmänner weckte bei vielen Kapos Hassgefühle, so dass sie deren Willkür besonders ausgesetzt waren. Auch führte die Unaufmerksamkeit der Muselmänner gegenüber ihrer Umwelt, gegenüber Erlaubtem, Verbotenem und Befohlenem – z.B. rechtzeitig die Mütze zu ziehen – und den andauernden Drohungen des Lagerlebens, denen auszuweichen ihnen nicht mehr gelang, zu Zusammenstößen mit SS-Männern und Funktionshäftlingen, die sie schlugen oder töteten. Die Muselmänner waren in vielen Fällen so ausgehungert, dass verstandesmäßige Handlungsorientierungen, die sie hätten schützen können, außer Kraft gesetzt waren. Verbliebene Aufmerksamkeit, Wille und Interesse waren häufig allein noch auf die Suche nach Essen gerichtet.  c 

 

In Buna/Monowitz waren Muselmänner eine alltägliche Erscheinung, besonders in schweren Kommandos. Die SS interpretierte ihre Apathie und Schwäche häufig als Faulheit und ging deshalb besonders brutal gegen sie vor, während die Werksleitung der I.G. Farben auf Selektionen drängte. Der Arbeitseinsatz und die Lebensbedingungen führten im Schnitt bei 4/5 aller Häftlinge mehr oder weniger schnell zu einer derartigen Entkräftung. „Der Muselmann war ‚Produkt‘ der Todesfabrik Konzentrationslager.“[7]

(MN)



Quellen

Marcel Ginzig, Lebensgeschichtliches Interview [Hebr.], 25./26.7.2007. Archiv des Fritz Bauer Instituts, Norbert Wollheim Memorial.

Ya’acov (Jack) Handeli, Lebensgeschichtliches Interview [Eng.], 1.8.2007. Archiv des Fritz Bauer Instituts, Norbert Wollheim Memorial.

Israel Löwenstein, Lebensgeschichtliches Interview [Dt.], 27.7.2007. Archiv des Fritz Bauer Instituts, Norbert Wollheim Memorial.

Robert Elie Waitz, Eidesstattliche Erklärung, 12.11.1947, NI-12373. Archiv des Fritz Bauer Instituts, Nürnberger Nachfolgeprozess Fall VI, ADB 75 N, Bl. 31–39.

Norbert Wollheim, First Interview [Eng.], 10.5.1991. United States Holocaust Memorial Museum, Transcript.

Norbert Wollheim, Second Interview [Eng.], 17.5.1991. United States Holocaust Memorial Museum, Transcript.

 

Literatur

Améry, Jean: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. Stuttgart: Klett-Cotta 1997.

Ryn, Zdziław / Kłodziński , Stanisław: An der Grenze zwischen Leben und Tod. Eine Studie über die Erscheinung des „Muselmanns“ im Konzentrationslager [1983]. In: Die Auschwitz-Hefte Band 1. Texte der polnischen Zeitschrift „Pzregląd Lekarski“ über historische, psychische und medizinische Aspekte des Lebens und Sterbens in Auschwitz. Hg. vom Hamburger Institut für Sozialforschung. Hamburg: Rogner & Bernhard 1994, S. 89–154.

Steinberg, Paul: Chronik aus einer dunklen Welt. Ein Bericht. Aus dem Französischen von Moshe Kahn. München: Hanser 1998.

Wagner, Bernd C.: IG Auschwitz. Zwangsarbeit und Vernichtung von Häftlingen des Lagers Monowitz 1941–1945. München: Saur 2000, bes. S. 140–141.

White, Joseph Robert: IG Auschwitz: The Primacy of Racial Politics. Dissertation, University of Nebraska at Lincoln, NE, 2000, bes. S. 205.

[1] Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. Stuttgart: Klett-Cotta 1997, S. 28–29.

[2] Die Herkunft des Begriffs ‚Muselmann‘ ist nicht geklärt. Doch weisen manche Überlebende darauf hin, dass die Apathie und das Schwanken der entkräfteten Häftlinge wohl an das Bild betender Muslime erinnert habe, wie es der europäische Orientalismus geprägt hatte – wirklich gekannt haben dürften die wenigsten in den Lagern Inhaftierten betende Muslime.

[3] Zdziław Ryn / Stanisław Kłodziński: An der Grenze zwischen Leben und Tod. Eine Studie über die Erscheinung des „Muselmanns“ im Konzentrationslager [1983]. In: Die Auschwitz-Hefte Band 1. Texte der polnischen Zeitschrift „Pzregląd Lekarski“ über historische, psychische und medizinische Aspekte des Lebens und Sterbens in Auschwitz. Hg. vom Hamburger Institut für Sozialforschung. Hamburg: Rogner & Bernhard 1994, S. 89–154, hier S. 92.

[4] Ryszard Kordek, einer der von Ryn/Kłodziński für ihre Studie befragten Überlebenden von Auschwitz, in: Ryn / Kłodziński: An der Grenze, S. 149.

[5] Ryn / Kłodziński: An der Grenze, S. 92.

[6] Ryn / Kłodziński: An der Grenze, S. 147.

[7] Ryn / Kłodziński: An der Grenze, S. 150.