Glossar

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Der Bericht Chroniques d’ailleurs von Paul Steinberg (1996)

„Ich bin fraglos einer der letzten Zeugen, die sich äußern, der Zeuge, dessen Erinnerungen am abgeklärtesten sind. Der Filter des Gedächtnisses hat seine Rolle gespielt, indem er mal das Wesentliche, mal das Nebensächliche, mal das Anekdotische fortbestehen ließ, einer Auswahl folgend, die von keiner offensichtlichen Logik geleitet wird, es sei denn, möglicherweise, dem Selbsterhaltungstrieb.“[1]

 

Aus dem Rückblick von 50 Jahren entschloss sich Paul Steinberg, seine Erinnerungen an das KZ Buna/Monowitz aufzuschreiben, in das er im Oktober 1943 von Drancy deportiert worden war. Allerdings folgt sein Bericht nur grob der chronologischen Ordnung der Ereignisse. Er beginnt zwar mit der Verhaftung im September 1943 in Paris aufgrund einer Denunziation und endet mit der Befreiung und Rückkehr nach Paris 1945, doch werden immer wieder Verbindungen in die Nachkriegszeit gezogen, zwischen den Zeitebenen wird gewechselt, wie es der innere assoziative, oft an Personen gebundene Zusammenhang der Erinnerungen fordert. So gilt ein Kapitel zu Anfang des Buches, „Der letzte Kampf“, der Geschichte des Boxers Victor „Young“ Perez, mit dem zusammen Steinberg nach Monowitz kam. Der 70-jährige Paul Steinberg versucht, sich im Schreiben dem 17/18-Jährigen anzunähern, der er im Lager war, versucht, dessen, seine damaligen Handlungen zu verstehen und anhand seiner Erinnerungen darzustellen, inwiefern sich die damaligen Ereignisse und Begegnungen in sein weiteres Leben eingeschrieben, ihre Spuren hinterlassen, ihn zu demjenigen gemacht haben, der nun diesen Bericht schreibt.

 

Paul Steinbergs Anliegen, zu berichten, ist nicht so sehr, die Grausamkeiten des Lagers zu schildern, auch wenn dies eine Rolle spielt, sondern zu reflektieren, wie alltägliche Gewalt und Druck des Lagers die Menschen verformten, ihn selbst dazu brachten, sich anzupassen, um überleben zu können, und sich zugleich angesichts dieses Überlebens schuldig zu fühlen. Besonders deutlich wird diese Erschütterung über die eigene Anpassung an das System der Gewalt im Kapitel „Die Ohrfeige“, worin Steinberg davon berichtet, wie er eines morgens als Stubendienst die leeren Betten kontrollieren musste, darin aber noch einen alten polnischen Juden fand, der das Bett nicht verließ, woraufhin Steinberg schon die Hand erhoben hatte, ihn zu schlagen, bevor er innehielt.

 

„Die Geschichte bricht an dieser Stelle ab. Ich bin nicht in der Lage zu sagen, wie seine Reaktion war, ob er heruntergestiegen ist, ob er sein Bett gemacht hat, was aus ihm geworden ist.

Ich bin versteinert stehengeblieben. Dann bin ich weggegangen, und diese Szene, banal im täglichen Leben eines Todeslagers, hat mich mein Leben lang verfolgt. Damit hatte die Ansteckung ihr Werk vollbracht, und ich war aus der Regel nicht ausgebrochen. In dieser Welt der Gewalt machte ich eine gewalttätige Bewegung und zeigte damit, daß ich dort den Platz eingenommen hatte, der mir zukam.“[2]

 

Zur Beschäftigung mit dem eigenen Überleben gehört in Paul Steinbergs Bericht auch die Auseinandersetzung mit Primo Levi, der ihn in seinem autobiographischen Roman Ist das ein Mensch? unter dem Namen Henri als skrupellos angepasst und kalt gegen alle schildert.

 

„Im Auge eines neutralen Beobachters meines Bildes, so wie er [Primo Levi] es gewonnen hat, war ich mit Sicherheit wild entschlossen, alles zu tun, um zu leben, bereit, die Mittel einzusetzen, die ich zur Verfügung hatte, und die Gabe, Sympathie und Mitleid zu erwecken.

Das merkwürdigste an dieser Beziehung, die in seinem Gedächtnis so genaue Spuren hinterlassen hat, ist, daß ich mich überhaupt nicht an ihn erinnere. Vielleicht, weil ich nicht zu beurteilen vermochte, daß er mir nützlich sein könnte? Was sein Urteil um so mehr stützen würde.

[…]

Ist man denn derart schuldig, wenn man überlebt?“[3]

 

Paul Steinberg schildert, wie er als ein 17-Jähriger ins Lager kam, der an Bindungslosigkeit gewöhnt und damit auf einige der Schwierigkeiten des Lagerlebens vorbereitet gewesen sei. Denn in seiner Familie habe er sich nie zuhause gefühlt und feste Freundschaften wegen der häufigen Orts- und Schulwechsel nicht gekannt. Andererseits prägten ihn nun für sein ganzes Leben gerade die Begegnungen mit einigen älteren gebildeten und vormals lebenslustigen französischen Juden im Häftlingskrankenbau von Buna/Monowitz, mit denen er sich über Literatur, Kunst und Philosophie unterhielt. Im Aufzeichnen seiner Erinnerungen erkundet Steinberg, wie die Erfahrungen des Lagers in ihrer Gewalt, aber auch die von Hilfe und Freundschaft zu quasi körperlichen Erinnerungen wurden: Denn die Musik, über die ihm im Krankenbau erzählt wurde, schätzte er sein Leben lang, und auch später habe er noch bei jeder sich bietenden Gelegenheit gerne eine Suppe gegessen. Auch seine lebenslange Angst vor der Kälte und dem Winter entstammte dem Lager.

 

Paul Steinbergs Bericht zeigt, wie sehr es dem Überlebenden, auch 50 Jahre später, unmöglich ist, vom Lager wirklich frei zu werden, auch wenn er vor der direkten physischen Gewalt des Lagers gerettet ist. Sein Buch gibt nicht nur Rechenschaft über das Geschehen im KZ Buna/Monowitz, sondern auch über die ganz persönliche Geprägtheit von Paul Steinbergs ganzem Leben durch das Vernichtungslager.

(MN)



Literatur

Levi, Primo: Ist das ein Mensch? Erinnerungen an Auschwitz. Frankfurt am Main: Fischer 1961.

Steinberg, Paul: Chroniques d’ailleurs: Récit. Paris: Ramsay 1996.

Steinberg, Paul: Chronik aus einer dunklen Welt. Ein Bericht. Aus dem Französischen von Moshe Kahn. München: Hanser 1998.

[1] Paul Steinberg: Chronik aus einer dunklen Welt. Ein Bericht. Aus dem Französischen von Moshe Kahn. München: Hanser 1998, S. 161.

[2] Steinberg: Chronik, S. 130.

[3] Steinberg: Chronik, S. 133.