Glossar

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Der Essayband Jenseits von Schuld und Sühne von Jean Améry (1966)

 a  „Nichts ist ja aufgelöst, kein Konflikt belegt, kein Er-innern zur bloßen Erinnerung geworden. Was geschah, geschah. Aber daß es geschah, ist so einfach nicht hinzunehmen. Ich rebelliere: gegen meine Vergangenheit, gegen die Geschichte, gegen eine Gegenwart, die das Unbegreifliche geschichtlich einfrieren läßt und es damit auf empörende Weise verfälscht. Nichts ist vernarbt, und was vielleicht 1964 schon im Begriff stand zu heilen, das bricht als infizierte Wunde wieder auf. Emotionen? Wo steht geschrieben, daß Aufklärung emotionslos zu sein hat? Das Gegenteil scheint mir wahr zu sein.“

(Jean Améry: Vorwort zur Neuausgabe 1977 von Jenseits von Schuld und Sühne: Bewältigungsversuche eines Überwältigten. In: Ders.: Werke. Bd. 2. Stuttgart: Klett-Cotta 2002, S. 11–19, hier S. 18–19.)

 

 b  „Man schaut nicht dem entmenschten Menschen bei seiner Tat und Untat zu, ohne dass alle Vorstellungen von eingeborener Menschenwürde in Frage gestellt würden. Wir kamen entblößt aus dem Lager, ausgeplündert, entleert, desorientiert – und es hat lange gedauert, bis wir nur wieder die Alltagssprache der Freiheit erlernten. Wir sprechen sie übrigens noch heute mit Unbehagen und ohne rechtes Vertrauen in ihre Gültigkeit.“

(Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne: Bewältigungsversuche eines Überwältigten. München: Szczesny 1966, S. 38.)

 

 c  „Staunen über die Existenz des grenzenlos in der Tortur sich behauptenden anderen und Staunen über das, was man selber werden kann: Fleisch und Tod. Der Gefolterte hört nicht wieder auf, sich zu wundern, daß alles, was man je nach Neigung seine Seele oder seinen Geist oder sein Bewußtsein oder seine Identität nennen mag, zunichte wird, wenn es in den Schultergelenken kracht und splittert. Daß das Leben fragil ist, diese Binsenwahrheit hat er immer gekannt […]. Daß man aber den lebenden Menschen so sehr verfleischlichen und damit im Leben schon halb und halb zum Raub des Todes machen kann, dies hat er erst durch die Tortur erfahren. Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt. Die Schmach der Vernichtung läßt sich nicht austilgen. Das zum Teil schon mit dem ersten Schlag, in vollem Umfang aber schließlich in der Tortur eingestürzte Weltvertrauen wird nicht wiedergewonnen. Daß der Mitmensch als Gegenmensch erfahren wurde, bleibt als gestauter Schrecken im Gefolterten liegen.“

(Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne: Bewältigungsversuche eines Überwältigten. München: Szeszny 1966, S. 70.)

 

 d  „Da stand ich mit fünfzehn Mark fünfzig, da verlor ich mich in der Schlange Unterstützungsbedürftiger, da kauerte ich im Deportationszug, da löffelte ich aus einer Konservenbüchse meine Suppe. Genau zu bestimmen wusste ich mich nicht, da man mir doch Vergangenheit und Herkunft konfisziert hatte, da ich doch nicht in einem Hause wohnte, sondern in einer Baracke Nummer soundso, da ich auch den zweiten Vornamen Israel führte, den nicht die Eltern mir gegeben hatten, sondern ein Mensch namens Globke.“

(Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne: Bewältigungsversuche eines Überwältigten. München: Szeszny 1966, S. 96.)

 

 e  „Die moralische Wahrheit der mir noch heute im Schädel dröhnenden Hiebe besaß und besitze ich nur selber und bin darum in höherem Maße urteilsbefugt, nicht nur als der Täter, sondern auch als die nur an ihren Bestand denkende Gesellschaft. Die Sozietät ist befaßt nur mit ihrer Sicherung und schert sich nicht um das beschädigte Leben: Sie blickt vorwärts, im günstigsten Fall, auf daß dergleichen sich nicht wieder ereigne. Meine Ressentiments aber sind da, damit das Verbrechen moralische Realität werde für den Verbrecher, damit er hineingerissen sei in die Wahrheit seiner Untat.“

(Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne: Bewältigungsversuche eines Überwältigten. München: Szeszny 1966, S. 113.)

 

 f  Zum Begriff Zeit-Umkehrung führt Améry aus: „In zwei Jahrzehnten Nachdenkens dessen, was mir widerfuhr, glaube ich erkannt zu haben, daß ein durch sozialen Druck bewirktes Vergeben und Vergessen unmoralisch ist. Der faul und wohlfeil Vergebende unterwirft sich dem sozialen und biologischen Zeitgefühl, das man auch das ‚natürliche‘ nennt. Natürliches Zeitbewußtsein wurzelt tatsächlich im physiologischen Prozeß der Wundheilung und ging ein in die gesellschaftliche Realitätsvorstellung. Es hat aber gerade aus diesem Grunde nicht nur außer-, sondern widermoralischen Charakter. Recht und Vorrecht des Menschen ist es, daß er sich nicht einverstanden erklärt mit jedem natürlichen Geschehen, also auch nicht mit dem biologischen Zuwachsen der Zeit. Was geschah, geschah: der Satz ist ebenso wahr wie er moral- und geistfeindlich ist. Sittliche Widerstandskraft enthält den Protest, die Revolte gegen das Wirkliche, das nur vernünftig ist, solange es moralisch ist. Der sittliche Mensch fordert Aufhebung der Zeit – im besonderen, hier zur Rede stehenden Fall: durch Festnagelung des Untäters an seine Untat. Mit ihr mag er bei vollzogener Zeitumkehrung als Mitmensch dem Opfer zugestellt sein.“

(Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne: Bewältigungsversuche eines Überwältigten. München: Szeszny 1966, S. 116.)

 

 g  „Nicht das Sein bedrängt mich oder das Nichts oder Gott oder die Abwesenheit Gottes, nur die Gesellschaft; denn sie und nur sie hat mir die existentielle Gleichgewichtsstörung verursacht, gegen die ich aufrechten Gang durchzusetzen versuche. Sie und nur sie hat mir das Weltvertrauen genommen.“

(Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne: Bewältigungsversuche eines Überwältigten. München: Szeszny 1966, S. 158.)

 

 h  „Niemand kann aus der Geschichte seines Volkes austreten. […] Man soll und darf die Vergangenheit nicht ‚auf sich beruhen lassen, weil sie sonst auferstehen und zu neuer Gegenwärtigkeit werden könnte.“

(Jean Améry: Vorwort zur Taschenbuchausgabe 1970 von Jenseits von Schuld und Sühne: Bewältigungsversuche eines Überwältigten. In: Ders.: Werke. Bd. 2. Stuttgart: Klett-Cotta 2002, S. 626–628, hier S. 628.)

„Ich trage auf meinem linken Unterarm die Auschwitz-Nummer; die liest sich kürzer als der Pentateuch oder der Talmud und gibt doch gründlicher Auskunft. Sie ist auch verbindlicher als Grundformel der jüdischen Existenz. Wenn ich mir und der Welt, einschließlich der religiösen und nationalgesinnten Juden, die mich nicht als einen der Ihren ansehen, sage: ich bin Jude, dann meine ich damit die in der Auschwitznummer zusammengefassten Wirklichkeiten und Möglichkeiten.“[1]

 

„Alles wird untergehen in einem summarischen ‚Jahrhundert der Barbarei‘. Als die wirklich Unbelehrbaren, Unversöhnlichen, als die geschichtsfeindlichen Reaktionäre in genauen Wortverstande werden wir dastehen, die Opfer, und als Betriebspanne wird schließlich erscheinen, daß immerhin manche von uns überlebten.“[2]

 

1964, parallel zum Beginn des 1. Frankfurter Auschwitz-Prozesses, schrieb der österreichische Jude und Überlebende des Holocaust Jean Améry (Hans Maier) an seinem ersten Essayband Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. Die Essays wurden zunächst im Rundfunk gesendet,[3] bevor sie 1966 beim Münchner Szczesny-Verlag erschienen. Das Buch versammelt fünf Texte: „An den Grenzen des Geistes“, „Die Tortur“, „Wieviel Heimat braucht der Mensch?“, „Ressentiments“ und „Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein“. Die Resonanz auf die Veröffentlichung war groß und machte Améry als engagierten Kultur- und Zeitkritiker im deutschsprachigen Raum bekannt, obwohl er schon seit Kriegsende kontinuierlich, überwiegend in Schweizer Zeitungen, publiziert hatte.

 

Mit seiner Essay-Folge beendete Améry nach eigenen Worten zwanzig Jahre Schweigen, indem er das im Exil, in der Folterkammer, im Lager und als jüdisches Opfer nach Auschwitz Erlebte in einer „durch Meditationen gebrochene[n], persönliche[n] Konfession“[4], wie er im Vorwort schreibt, zu Papier brachte. Keinen dokumentarischen Auschwitz-Bericht will Améry geben und die „fleißigen historisch-psychologisch-soziologisch-politischen Arbeiten“[5] zum Dritten Reich erscheinen ihm wenig erhellend: „was mich beschäftigt und wovon zu reden ich qualifiziert bin, das sind die Opfer dieses Reiches. Kein Denkmal will ich ihnen setzen, denn Opfer sein allein ist noch nicht Ehre. Nur ihre Kondition wollte ich beschreiben, die ist unveränderbar.“[6] Gegen das sachlich abgeklärte geschichtliche Erinnern wendet sich Améry aus der rebellierenden „subjektiven Verfassung des Opfers“[7] heraus.  a 

 

Der erste Essay in Jenseits von Schuld und Sühne mit dem Titel „An den Grenzen des Geistes“ analysiert, wie Geist, Vernunft und Geistesbildung dem intellektuellen Häftling im KZ keine Hilfe waren, sich sogar selbstzerstörerisch auswirkten. Aus dem Lager nahmen die intellektuellen Häftlinge auch keine „Lehren“ oder „Weisheiten“ mit, so Améry. Die Erfahrungen lassen sich nur als Negation positiver Identität bestimmen, als Beschädigungen.  b 

 

Im zweiten Aufsatz, „Die Tortur“,berichtet Améry in äußerst verdichteter Form von der Folterung, die er 1943 in Fort Breedonk erlitt. Die eigene Folter-Erfahrung wird in phänomenologischer Beschreibung als körperliche Überwältigung durch den anderen bestimmt, die einem existentiellen Vernichtungsvollzug gleichkommt, da der Gefolterte keine Hilfe erwarten kann.  c 

 

Der dritte Essay definiert den Begriff Heimat als die Sicherheit des „Geborgen-Seins“, ein Gefühl, das in Kindheit und Jugend entsteht und den Menschen mit einer eigenen Vergangenheit ausstattet. Die exilierten Juden des Dritten Reiches verloren mit ihrer Heimat bzw. Sicherheit gleichzeitig das Anrecht auf Vergangenheit.  d 

 

In dem Essay „Ressentiments“ deutet Améry die Ressentiments der Nazi-Opfer gegen Deutschland und die Deutschen als einen Wusch nach „moralischer Realität“  e  und nach Zeit-Umkehrung.  f 

 

In „Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein“ schließlich, dem letzten Text des Buches, reflektiert Améry die Konditionen seines Judentums. Er kommt zu dem Schluss, dass er als nichtgläubiger und assimilierter Jude das Schicksal und die Verpflichtung habe, Jude zu sein, solange es auch nur einen einzigen Antisemiten gibt und die soziale Wirklichkeit Grund zur Beunruhigung gibt.  g 

 

Die Essay-Sammlung Jenseits von Schuld und Sühne steht im Zentrum der Améry-Rezeption, die sich stellenweise auf dieses Werk, das gewissermaßen als kanonisch gelten kann, reduziert. In den Jahrzehnten nach seinem Tod im Jahr 1978 nahm die Rezeption seiner Schriften stark ab.

 

Es war nicht nur die politische und intellektuelle Rechte, die ihn erwartungsgemäß anfeindete: Im Laufe der 1970er Jahre war es vor allem Amérys Kritik am linken Antizionismus, die ihn immer wieder auf Konfrontationskurs mit der Linken hielt. Die „Améry-Gemeinde“ der letzten Jahrzehnte blieb eher klein. Zu Améry publizierten kontinuierlich vor allem Henryk M. Broder, Irene Heidelberger-Leonard, Jan Philipp Reemtsma, W. G. Sebald, Gerhard Scheit und Stephan Steiner.

 

Im Zuge der Historisierung der Shoah, der damit häufig einhergehenden historischen Relativierung und der massenkulturellen Verwertung in der Unterhaltungskultur schien Amérys Stimme immer weniger Gehör zu finden, seine konsequenten Interventionen, seine Ressentiments und seine Verweigerung von Identifikation immer weniger erwünscht.

 

Ein Zitat Jean Amérys findet sich auf der Gedenktafel am I.G. Farben-Hausin Frankfurt am Main.  h 

(GB)



Literatur

Améry, Jean: Jenseits von Schuld und Sühne: Bewältigungsversuche eines Überwältigten, München: Szczesny 1966.

Améry, Jean: Werke. Bd. 2. Stuttgart: Klett-Cotta 2002.

Bormuth, Matthias: Kritik aus Passion. Einleitung zu Person und Werk von Jean Améry. In: Matthias Bormuth / Susan Nurmi-Schomers (Hg.): Kritik aus Passion. Studien zu Jean Améry. Göttingen: Wallstein 2001, S. 7–25.

Heidelberger-Leonard, Irene: Jean Améry. Revolte in der Resignation. Stuttgart: Klett-Cotta 2004.

Pfäfflin, Friedrich: Jean Améry – Daten zu einer Biographie. In: Stephan Steiner (Hg.): Jean Améry (Hans Maier). Basel/Frankfurt am Main: Stroemfeld 1996, S. 265–280.

Reemtsma, Jan Philipp: 172364: Gedanken über den Gebrauch der ersten Person Singular bei Jean Améry. In: Stephan Steiner (Hg.): Jean Améry (Hans Maier). Basel/Frankfurt am Main: Stroemfeld 1996, S. 63–86.

Scheit, Gerhard: Nachwort. In: Jean Améry: Werke. Bd. 2. Stuttgart: Klett-Cotta 2002, S. 629–711.

Scheit, Gerhard: Entschieden zweifeln. Gerhard Scheit über die politischen Interventionen Jean Amérys. In: Jungle World, 09/2006, http://jungle-world.com/artikel/2006/09/17021.html (Zugriff am 18.3.2010).

Sebald, W. G.: Jean Améry und Primo Levi. In: Irene Heidelberger-Leonard (Hg.): Über Jean Améry. Heidelberg: Winter 1990, S. 115–123.

Steiner, Stephan: Erinnern und Leben. Versuch zum Ort des Erinnerns bei Jean Améry. In: Matthias Bormuth / Susan Nurmi-Schomers (Hg.): Kritik aus Passion. Studien zu Jean Améry. Göttingen: Wallstein 2001, S. 27–40.

[1] Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne: Bewältigungsversuche eines Überwältigten. München: Szeszny 1966, S. 148.

[2] Améry: Jenseits, S. 128.

[3] Über Amérys Zusammenführung der Vermittlungsformen Rundfunk und Buch schreibt Gerhard Scheit: „Ohne sie ist diese Sprache in ihrer frappierenden Gegenwärtigkeit kaum vorstellbar; eine Sprache, die ohne distanzlos zu sein, in ganz bestimmter Weise provoziert, weil sie das ‚Ich‘ nicht mehr vermeidet, vor der Aufdeckung des Privaten nicht mehr zurückschreckt. Diese subjektive Intensität der Vergegenwärtigung hat Helmut Heißenbüttel – den ersten Leser – sofort angesprochen. Sie war im Zusammenhang der nationalsozialistischen Verbrechen etwas ganz und gar Unerhörtes.“ (Gerhart Scheit: Nachwort. In: Jean Améry: Werke. Bd. 2. Stuttgart: Klett-Cotta 2002, S. 629–692, hier S. 650.)

[4] So Améry im Vorwort der Erstausgabe von Jenseits von Schuld und Sühne (Améry: Jenseits, S. 8.) Dort heißt es zuvor: „Hatte ich noch in den ersten Zeilen des Auschwitz-Aufsatzes geglaubt, ich könne behutsam und distanziert bleiben und dem Leser in distinguierter Objektivität gegenübertreten, musste ich nun erfahren, daß es einfach unmöglich war: wo das ‚Ich‘ durchaus hätte vermieden werden sollen, erwies es sich als der einzig brauchbare Ansatzpunkt.“ (Ebda.)

[5] Améry im Vorwort zur Neuausgabe von Jenseits von Schuld und Sühne von 1977, in: Améry: Werke 2, S. 11–19, hier S. 12.

[6] Ebd., S. 14.

[7] Améry: Jenseits, S. 104.