Der Essayband Jenseits von Schuld und Sühne von Jean Améry (1966)
(Jean Améry: Vorwort zur Neuausgabe 1977 von Jenseits von Schuld und Sühne: Bewältigungsversuche eines Überwältigten. In: Ders.: Werke. Bd. 2. Stuttgart: Klett-Cotta 2002, S. 11–19, hier S. 18–19.)
(Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne: Bewältigungsversuche eines Überwältigten. München: Szczesny 1966, S. 38.)
(Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne: Bewältigungsversuche eines Überwältigten. München: Szeszny 1966, S. 70.)
(Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne: Bewältigungsversuche eines Überwältigten. München: Szeszny 1966, S. 96.)
(Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne: Bewältigungsversuche eines Überwältigten. München: Szeszny 1966, S. 113.)
(Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne: Bewältigungsversuche eines Überwältigten. München: Szeszny 1966, S. 116.)
(Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne: Bewältigungsversuche eines Überwältigten. München: Szeszny 1966, S. 158.)
(Jean Améry: Vorwort zur Taschenbuchausgabe 1970 von Jenseits von Schuld und Sühne: Bewältigungsversuche eines Überwältigten. In: Ders.: Werke. Bd. 2. Stuttgart: Klett-Cotta 2002, S. 626–628, hier S. 628.)
„Ich trage auf meinem linken Unterarm die Auschwitz-Nummer; die liest sich kürzer als der Pentateuch oder der Talmud und gibt doch gründlicher Auskunft. Sie ist auch verbindlicher als Grundformel der jüdischen Existenz. Wenn ich mir und der Welt, einschließlich der religiösen und nationalgesinnten Juden, die mich nicht als einen der Ihren ansehen, sage: ich bin Jude, dann meine ich damit die in der Auschwitznummer zusammengefassten Wirklichkeiten und Möglichkeiten.“[1]
„Alles wird untergehen in einem summarischen ‚Jahrhundert der Barbarei‘. Als die wirklich Unbelehrbaren, Unversöhnlichen, als die geschichtsfeindlichen Reaktionäre in genauen Wortverstande werden wir dastehen, die Opfer, und als Betriebspanne wird schließlich erscheinen, daß immerhin manche von uns überlebten.“[2]
1964, parallel zum Beginn des 1. Frankfurter Auschwitz-Prozesses, schrieb der österreichische Jude und Überlebende des Holocaust Jean Améry (Hans Maier) an seinem ersten Essayband Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. Die Essays wurden zunächst im Rundfunk gesendet,[3] bevor sie 1966 beim Münchner Szczesny-Verlag erschienen. Das Buch versammelt fünf Texte: „An den Grenzen des Geistes“, „Die Tortur“, „Wieviel Heimat braucht der Mensch?“, „Ressentiments“ und „Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein“. Die Resonanz auf die Veröffentlichung war groß und machte Améry als engagierten Kultur- und Zeitkritiker im deutschsprachigen Raum bekannt, obwohl er schon seit Kriegsende kontinuierlich, überwiegend in Schweizer Zeitungen, publiziert hatte.
Mit seiner Essay-Folge beendete Améry nach eigenen Worten zwanzig Jahre Schweigen, indem er das im Exil, in der Folterkammer, im Lager und als jüdisches Opfer nach Auschwitz Erlebte in einer „durch Meditationen gebrochene[n], persönliche[n] Konfession“[4], wie er im Vorwort schreibt, zu Papier brachte. Keinen dokumentarischen Auschwitz-Bericht will Améry geben und die „fleißigen historisch-psychologisch-soziologisch-politischen Arbeiten“[5] zum Dritten Reich erscheinen ihm wenig erhellend: „was mich beschäftigt und wovon zu reden ich qualifiziert bin, das sind die Opfer dieses Reiches. Kein Denkmal will ich ihnen setzen, denn Opfer sein allein ist noch nicht Ehre. Nur ihre Kondition wollte ich beschreiben, die ist unveränderbar.“[6] Gegen das sachlich abgeklärte geschichtliche Erinnern wendet sich Améry aus der rebellierenden „subjektiven Verfassung des Opfers“[7] heraus.
Der erste Essay in Jenseits von Schuld und Sühne mit dem Titel „An den Grenzen des Geistes“ analysiert, wie Geist, Vernunft und Geistesbildung dem intellektuellen Häftling im KZ keine Hilfe waren, sich sogar selbstzerstörerisch auswirkten. Aus dem Lager nahmen die intellektuellen Häftlinge auch keine „Lehren“ oder „Weisheiten“ mit, so Améry. Die Erfahrungen lassen sich nur als Negation positiver Identität bestimmen, als Beschädigungen.
Im zweiten Aufsatz, „Die Tortur“,berichtet Améry in äußerst verdichteter Form von der Folterung, die er 1943 in Fort Breedonk erlitt. Die eigene Folter-Erfahrung wird in phänomenologischer Beschreibung als körperliche Überwältigung durch den anderen bestimmt, die einem existentiellen Vernichtungsvollzug gleichkommt, da der Gefolterte keine Hilfe erwarten kann.
Der dritte Essay definiert den Begriff Heimat als die Sicherheit des „Geborgen-Seins“, ein Gefühl, das in Kindheit und Jugend entsteht und den Menschen mit einer eigenen Vergangenheit ausstattet. Die exilierten Juden des Dritten Reiches verloren mit ihrer Heimat bzw. Sicherheit gleichzeitig das Anrecht auf Vergangenheit.
In dem Essay „Ressentiments“ deutet Améry die Ressentiments der Nazi-Opfer gegen Deutschland und die Deutschen als einen Wusch nach „moralischer Realität“
In „Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein“ schließlich, dem letzten Text des Buches, reflektiert Améry die Konditionen seines Judentums. Er kommt zu dem Schluss, dass er als nichtgläubiger und assimilierter Jude das Schicksal und die Verpflichtung habe, Jude zu sein, solange es auch nur einen einzigen Antisemiten gibt und die soziale Wirklichkeit Grund zur Beunruhigung gibt.
Die Essay-Sammlung Jenseits von Schuld und Sühne steht im Zentrum der Améry-Rezeption, die sich stellenweise auf dieses Werk, das gewissermaßen als kanonisch gelten kann, reduziert. In den Jahrzehnten nach seinem Tod im Jahr 1978 nahm die Rezeption seiner Schriften stark ab.
Es war nicht nur die politische und intellektuelle Rechte, die ihn erwartungsgemäß anfeindete: Im Laufe der 1970er Jahre war es vor allem Amérys Kritik am linken Antizionismus, die ihn immer wieder auf Konfrontationskurs mit der Linken hielt. Die „Améry-Gemeinde“ der letzten Jahrzehnte blieb eher klein. Zu Améry publizierten kontinuierlich vor allem Henryk M. Broder, Irene Heidelberger-Leonard, Jan Philipp Reemtsma, W. G. Sebald, Gerhard Scheit und Stephan Steiner.
Im Zuge der Historisierung der Shoah, der damit häufig einhergehenden historischen Relativierung und der massenkulturellen Verwertung in der Unterhaltungskultur schien Amérys Stimme immer weniger Gehör zu finden, seine konsequenten Interventionen, seine Ressentiments und seine Verweigerung von Identifikation immer weniger erwünscht.
Ein Zitat Jean Amérys findet sich auf der Gedenktafel am I.G. Farben-Hausin Frankfurt am Main.
(GB)