Glossar

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Der Roman La tregua von Primo Levi (1963)

 a  „Ich half Leonardo in der Ambulanz, und ich half ihm bei der täglichen Läusekontrolle. Solche Kotrollen waren nötig, weil in jenen Ländern damals der Flecktyphus endemisch und tödlich umging. Die Aufgabe war nicht gerade reizvoll. Wir mußten in allen Baracken die Runde machen, und jeder einzelne wurde aufgefordert, sich bis zum Gürtel freizumachen und sein Hemd vorzuzeigen. In den Falten und Nähten pflegen die Läuse zu nisten und ihre Eier abzulegen.“  

(Primo Levi: Die Atempause. München: dtv 1994, S. 71.)

 

 b  „Andererseits erweckte die Tatsache, zum erstenmal ein Stück Deutschland, nicht ein Stück von Oberschlesien oder von Österreich, sondern vom wirklichen Deutschland unter den Füßen zu haben, eine komplexe Empfindung in uns, eine Mischung aus Ungeduldsamkeit, Frustration und Anspannung, die mächtiger war als die Erschöpfung. Uns schien, als hätten wir jedem einzelnen Deutschen etwas zu sagen […]: Wir hatten das Bedürfnis, die Summe zu ziehen, zu fragen, zu erklären, zu kommentieren, wie Schachspieler am Ende einer Partie. Wußten ‚sie‘ von Auschwitz, vom verschwiegenen täglichen Massenmord, direkt vor ihren Türen? Wenn ja, wie konnten sie auf der Straße gehen, in ihre Häuser zurückkehren, ihre Kinder ansehen, die Schwelle einer Kirche überschreiten? Wenn nicht, dann sollten, sie, mußten sie in Gottes Namen zuhören, alles erfahren, von uns, von mir, alles und unverzüglich: Die tätowierte Zahl auf meinem Arm brannte wie eine Wunde. […] Mir war, als müsse jeder uns Fragen stellen, uns an den Gesichtern ablesen, wer wir waren, demütig unseren Bericht anhören. Aber niemand sah uns in die Augen, niemand nahm die Herausforderung an: Sie waren taub, blind und stumm, eingeschlossen in ihre Ruinen wie in eine Festung gewollter Unwissenheit, noch immer stark, noch immer fähig zu hassen und zu verachten, noch immer Gefangene der alten Fesseln von Überheblichkeit und Schuld.“

(Primo Levi: Die Atempause. München: dtv 1994, S. 241–242.)

 

 c  „…plötzlich weiß ich, was es zu bedeuten hat –, und weiß auch, daß ich es immer gewusst habe: Ich bin wieder im Lager, nichts ist wirklich außer dem Lager; alles andere waren kurze Ferien, oder Sinnestäuschungen; Traum: die Familie, die blühende Natur, das Zuhause. Der innere Traum, der Traum vom Frieden, ist nun zu Ende, der äußere dagegen geht eisig weiter: Ich höre eine Stimme, wohlbekannt, ein einziges Wort, nicht befehlend, sondern kurz und gedämpft. Es ist das Morgenkommando von Auschwitz, ein fremdes Wort, gefürchtet und erwartet: Aufstehen, ‚Wstavać‘.“

(Primo Levi: Die Atempause. München: dtv 1994, S. 245–246.)

„Alle Glieder schmerzten, in meinem Kopf konvulsivisch das Blut, und ich spürte, wie das Fieber mich packte. Aber es war nicht nur das: Als ob ein Damm gebrochen sei, wurde ich gerade in dieser Stunde, da jede Bedrohung vorüber schien, da die Hoffnung auf eine Rückkehr ins Leben nicht mehr unsinnig war, von einem neuen und umfassenderen Schmerz ergriffen, begraben bis jetzt und von anderen, unmittelbareren Schmerzen an den Rand des Bewußtseins gedrängt: dem Schmerz des Exils, der Sehnsucht nach der fernen Heimat, dem Schmerz der Einsamkeit, dem Schmerz um die verlorenen Freunde, die verlorene Jugend und das Leichenheer ringsum. In meinem Jahr in Buna hatte ich vier Fünftel meiner Kameraden verschwinden sehen, aber die konkrete Gegenwart, das Lauern des Todes, seinen schmutzigen Hauch nur einen Schritt weiter, draußen vor dem Fenster, im Bett neben mir, in meinen eigenen Adern, hatte ich nie gespürt.“[1]

 

In seinem zweiten, 1963 auf Italienisch erschienenen Buch La tregua (dt. Die Atempause, 1964) beschreibt der Buna/Monowitz-Überlebende Primo Levi die Zeit nach der Befreiung durch die Rote Armee und die lange Reise zurück nach Italien.

 

Primo Levi blieb zurück, als das Lager am 18. Januar 1945 ‚evakuiert‘ wurde, die Häftlinge von der SS auf den Todesmarsch nach Westen getrieben wurden. In La tregua beschreibt er das unmittelbare Nachkriegserleben aus der Sicht des Erzählers „Primo“: Er liegt mit Scharlach im Häftlingskrankenbau des KZ Buna/Monowitz. Zehn Tage lang hatten die dort Zurückgelassenen gegen Hunger, Kälte und Krankheit angekämpft, viele von ihnen starben dabei. Am 27. Januar kommen die Soldaten der Roten Armee: die Überlebenden sind befreit. Erst nach einigen Wochen im Krankenhaus des Stammlagers kann Primo sich Ende Februar auf die lange Reise nach Hause machen. Mit verschiedenen Zügen, zu Fuß über zerstörte Gleise und mit großen Umwegen gelangt er zusammen mit „dem Griechen“, Mordo Nahum, zunächst nach Kraków. Im alltäglichen Kampf um die nötigen Nahrungsmittel wird ihm oftmals klar, dass „der Krieg noch nicht vorbei ist“[2], dass etwa Antisemitismus und Versorgungsschwierigkeiten in Kraków zum Alltag gehören. Im folgenden Lager, Kattowitz, arbeitet er einige Wochen als „Arzt“ in der Apotheke eines Displaced Persons Lagers (DP-camp)  a , bis die DPs im Juni 1945 mit Waggons der russischen Armee über das Schwarze Meer repatriiert werden sollen. Der Weg nach Odessa ist jedoch abgeschnitten, der mit Reisenden verschiedenster Herkunft und Vergangenheit besetzte Zug wird nach Norden umgeleitet und gelangt nach Staryje Doroghi, einem Auffanglager in der Ukraine. Im September steht schließlich ein Zug bereit, der Primo über Ungarn, Österreich und Deutschland  b  nach Italien bringen soll. Am 19. Oktober 1945 kehrt der Erzähler nach Turin zu seiner Mutter und Schwester zurück.

 

Die Beschreibung seiner Odyssee verflicht der Erzähler mit Beobachtungen, die den Weg des Auschwitz-Häftlings zurück in die Gesellschaft der Menschen reflektieren. Genaue und einfühlsame Zeichnungen der Menschen, die ihm unterwegs begegnen, schaffen den Hintergrund für seine exakte, teilnahmsvolle Beschreibung seiner Mitreisenden, die sich nur sehr langsam mit den Erfahrungen von KZ und Krieg auseinandersetzen können. Dem Erzähler selbst gelingt dies im Schreiben auch nur eingeschränkt: aus vielen seiner Schilderungen spricht Distanziertheit vom eigenen Erleben, wenn er sich etwa auf eine Beobachterposition zurückzieht oder von „uns“ als Gruppe der Reisenden statt von „mir“ spricht. Die Reise, eine ‚Atempause‘, „lebendige Bilder einer einzigartigen Phase unseres Lebens“[3], ist eine Übergangsphase in bewegt geschilderten Bildern, deren Endpunkt keine Ankunft markiert: im Schluss liegt angedeutet, dass die Überlebenden lebenslang von ihren Erinnerungen verfolgt werden.  c 

 

Darin kann Die Atempause auch als Vollendung von Primo Levis Zeugnis gelesen werden: mehr als zehn Jahre nach Ist das ein Mensch? entstanden, bildet Die Atempause nicht nur dessen ‚Fortsetzung‘ als unmittelbarer Bericht über ‚Auschwitz‘, sondern legt gleichzeitig Zeugnis ab über die Schwierigkeiten derer, die ihn überlebten, von ihren Erfahrungen des Holocaust zu sprechen.

 

Eine deutsche Übersetzung erschien 1964. Das Buch wurde 1997 von Francesco Rosi verfilmt.

(SP)



Literatur

Benchouiha, Lucie: Primo Levi. Rewriting the Holocaust. Leicester: Troubador 2006.

Levi, Primo: Ist das ein Mensch? Erinnerungen an Auschwitz. Frankfurt am Main: Fischer 1961.

Levi, Primo: La tregua. Torino: Einaudi 1963.

Levi, Primo: Die Atempause. München: dtv 1994.

[1] Primo Levi: Die Atempause. München: dtv 1994, S. 11–12.

[2] Levi: Atempause, S. 57.

[3] Levi: Atempause, S. 111.