Der Roman La tregua von Primo Levi (1963)
(Primo Levi: Die Atempause. München: dtv 1994, S. 71.)
(Primo Levi: Die Atempause. München: dtv 1994, S. 241–242.)
(Primo Levi: Die Atempause. München: dtv 1994, S. 245–246.)
„Alle Glieder schmerzten, in meinem Kopf konvulsivisch das Blut, und ich spürte, wie das Fieber mich packte. Aber es war nicht nur das: Als ob ein Damm gebrochen sei, wurde ich gerade in dieser Stunde, da jede Bedrohung vorüber schien, da die Hoffnung auf eine Rückkehr ins Leben nicht mehr unsinnig war, von einem neuen und umfassenderen Schmerz ergriffen, begraben bis jetzt und von anderen, unmittelbareren Schmerzen an den Rand des Bewußtseins gedrängt: dem Schmerz des Exils, der Sehnsucht nach der fernen Heimat, dem Schmerz der Einsamkeit, dem Schmerz um die verlorenen Freunde, die verlorene Jugend und das Leichenheer ringsum. In meinem Jahr in Buna hatte ich vier Fünftel meiner Kameraden verschwinden sehen, aber die konkrete Gegenwart, das Lauern des Todes, seinen schmutzigen Hauch nur einen Schritt weiter, draußen vor dem Fenster, im Bett neben mir, in meinen eigenen Adern, hatte ich nie gespürt.“[1]
In seinem zweiten, 1963 auf Italienisch erschienenen Buch La tregua (dt. Die Atempause, 1964) beschreibt der Buna/Monowitz-Überlebende Primo Levi die Zeit nach der Befreiung durch die Rote Armee und die lange Reise zurück nach Italien.
Primo Levi blieb zurück, als das Lager am 18. Januar 1945 ‚evakuiert‘ wurde, die Häftlinge von der SS auf den Todesmarsch nach Westen getrieben wurden. In La tregua beschreibt er das unmittelbare Nachkriegserleben aus der Sicht des Erzählers „Primo“: Er liegt mit Scharlach im Häftlingskrankenbau des KZ Buna/Monowitz. Zehn Tage lang hatten die dort Zurückgelassenen gegen Hunger, Kälte und Krankheit angekämpft, viele von ihnen starben dabei. Am 27. Januar kommen die Soldaten der Roten Armee: die Überlebenden sind befreit. Erst nach einigen Wochen im Krankenhaus des Stammlagers kann Primo sich Ende Februar auf die lange Reise nach Hause machen. Mit verschiedenen Zügen, zu Fuß über zerstörte Gleise und mit großen Umwegen gelangt er zusammen mit „dem Griechen“, Mordo Nahum, zunächst nach Kraków. Im alltäglichen Kampf um die nötigen Nahrungsmittel wird ihm oftmals klar, dass „der Krieg noch nicht vorbei ist“[2], dass etwa Antisemitismus und Versorgungsschwierigkeiten in Kraków zum Alltag gehören. Im folgenden Lager, Kattowitz, arbeitet er einige Wochen als „Arzt“ in der Apotheke eines Displaced Persons Lagers (DP-camp)
Die Beschreibung seiner Odyssee verflicht der Erzähler mit Beobachtungen, die den Weg des Auschwitz-Häftlings zurück in die Gesellschaft der Menschen reflektieren. Genaue und einfühlsame Zeichnungen der Menschen, die ihm unterwegs begegnen, schaffen den Hintergrund für seine exakte, teilnahmsvolle Beschreibung seiner Mitreisenden, die sich nur sehr langsam mit den Erfahrungen von KZ und Krieg auseinandersetzen können. Dem Erzähler selbst gelingt dies im Schreiben auch nur eingeschränkt: aus vielen seiner Schilderungen spricht Distanziertheit vom eigenen Erleben, wenn er sich etwa auf eine Beobachterposition zurückzieht oder von „uns“ als Gruppe der Reisenden statt von „mir“ spricht. Die Reise, eine ‚Atempause‘, „lebendige Bilder einer einzigartigen Phase unseres Lebens“[3], ist eine Übergangsphase in bewegt geschilderten Bildern, deren Endpunkt keine Ankunft markiert: im Schluss liegt angedeutet, dass die Überlebenden lebenslang von ihren Erinnerungen verfolgt werden.
Darin kann Die Atempause auch als Vollendung von Primo Levis Zeugnis gelesen werden: mehr als zehn Jahre nach Ist das ein Mensch? entstanden, bildet Die Atempause nicht nur dessen ‚Fortsetzung‘ als unmittelbarer Bericht über ‚Auschwitz‘, sondern legt gleichzeitig Zeugnis ab über die Schwierigkeiten derer, die ihn überlebten, von ihren Erfahrungen des Holocaust zu sprechen.
Eine deutsche Übersetzung erschien 1964. Das Buch wurde 1997 von Francesco Rosi verfilmt.
(SP)