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Der Spielfilm La Tregua (I/D/CH 1997, R: Francesco Rosi)

Filmstill aus „La Tregua“ (1997)'© Daniel Zuta, Filmproduktion
Filmstill aus „La Tregua“ (1997)
© Daniel Zuta, Filmproduktion

 a  Gedicht in Übersetzung nach Filmfassung:

„Ihr, die ihr sicher in der Geborgenheit eurer Häuser lebt,

die ihr am Abend, bei eurer Rückkehr,

etwas Warmes zu Essen vorfindet und in freundliche Gesichter blickt,

fragt euch, ob dies ein Mensch ist,

der im Schmutz arbeiten muss,

der keinen Frieden kennt,

der um eine Brotkruste kämpft,

der bei einem ‚Ja‘ oder einem ‚Nein‘ stirbt.

Denkt darüber nach, dass all dies geschehen ist.“

 

 b  Schlusspassage des Romans Die Atempause:

„Aber es dauerte noch viele Monate, bis ich die Gewohnheit verlor, den Blick beim Gehen stets auf den Boden zu heften, als sei ich immer auf der Suche nach Eßbarem oder nach Dingen, die sich schnell einstecken und gegen Brot eintauschen ließen: Und immer noch sucht mich, bald häufiger, dann wieder selten, ein entsetzlicher Traum heim.

Es ist ein Traum im Traum, unterschiedlich in den Details, gleichbleibend in der Substanz. Ich sitze am Familientisch, bin unter Freunden, bei der Arbeit oder in einer grünen Landschaft – die Umgebung jedenfalls ist friedlich, scheinbar gelöst und ohne Schmerz; dennoch erfüllt mich eine leise und tiefe Beklemmung, die deutliche Empfindung einer drohenden Gefahr. Und wirklich, nach und nach oder auch mit brutaler Plötzlichkeit löst sich im Verlauf des Traumes alles um mich herum auf; die Umgebung, die Wände, die Personen weichen zurück; die Beklemmung nimmt zu, wird drängender, deutlicher. Dann ist alles ringsum Chaos, ich bin allein im Zentrum eines grauen wirbelnden Nichts; und plötzlich weiß ich, was es zu bedeuten hat –, und weiß auch, daß ich es immer gewußt habe: Ich bin wieder im Lager, nichts ist wirklich außer dem Lager; alles andere waren kurze Ferien, oder Sinnestäuschungen; Traum: die Familie, die blühende Natur, das Zuhause. Der innere Traum, der Traum vom Frieden, ist nun zu Ende, der äußere dagegen geht eisig weiter: Ich höre eine Stimme, wohlbekannt, ein einziges Wort, nicht befehlend, sondern kurz und gedämpft. Es ist das Morgenkommando von Auschwitz, ein fremdes Wort, gefürchtet und erwartet: Aufstehen, ‚Wstavać‘.“

(Primo Levi: Die Atempause. München: dtv 1994, S. 245–246.)

Primo Levis literarischer Bericht über seine Heimreise von Auschwitz nach Italien, La tregua (Die Atempause), wurde 1997 unter der Regie von Francesco Rosi verfilmt. Die deutsche Fassung trägt den Untertitel „Auf jeden wartet eine Zukunft“.

 

Der Spielfilm „nach dem gleichnamigen Roman“ wird von einem Vorspann eingeleitet, in dem die historischen Rahmenbedingungen der Auflösung und ‚Evakuierung‘ der nationalsozialistischen Konzentrationslager eingeführt werden. Mit dem Abzug der SS setzt die Spielhandlung ein, russische Soldaten befreien eine große Anzahl männlicher und weiblicher abgemagerter und in Lumpen gekleideter Häftlinge. Die Hauptperson, Primo Levi (John Turturro), beobachtet das Geschehen und die folgenden unkoordinierten Verschickungen, Fußmärsche und Aufenthalte in verschiedenen Lagern der Roten Armee auf dem Weg zurück in sein Heimatland Italien mit großen, dunklen Augen und zurückhaltender Distanz. Einzelne Stationen auf der langen Reise einiger italienischer Displaced Persons durch Polen kommentiert in der deutschen Fassung eine akzentgefärbte Stimme aus dem Off mit kurzen Passagen aus Levis Text.

 

Der Film fokussiert auf wiederaufkeimende Beziehungen unter den Überlebenden in einer kriegszerstörten Gegend. Gezeigt wird das Verhältnis Primo Levis zu den Männern, mit denen er weite Strecken der Reise durch Polen und die Ukraine zurücklegt, zum Kleinganoven Ferrari, zum bauernschlauen Cesare, dem trauernden Daniele, dem selbsternannten Kommandanten Rovi, dem undurchschaubaren Griechen Mordo Nahum. Sie alle wollen zurück nach Hause. Parallel zur Reise entwickeln sich verschiedene kurz- oder längerfristige Liebesbeziehungen, auch die Hauptperson erlebt (anders als in der Handlung des Buches) eine kurze Liebe mit einer ehemaligen Zwangsprostituierten aus dem KZ Buna/Monowitz. Die so dargestellte Sehnsucht nach einer Rückkehr ins Leben wird unterbrochen von wenigen Rückblenden in schwarz/weiß, die Erinnerungen an die Zeit im Lager aufblitzen lassen. Auf eine Thematisierung bzw. Konkretisierung der schweren Haftfolgen verzichtet der Film jedoch; die Krankheiten, an denen Levi in Folge der Lagerzeit litt, werden nicht erwähnt, ebenso wenig wie seine Beobachtungen von Gefühlskälte und Traumatisierung. Die Hauptperson erscheint im Film einfach melancholisch, nachdenklich und versonnen.

 

Das Ende des Films La Tregua ist bemüht, Unsicherheiten aufzulösen: Die Heimkehr erweckt den Eindruck eines glücklichen Endes; der Sprecher schließt mit einer gekürzten Strophe des Gedichts „Ist das ein Mensch?“, die allgemein appelliert, das Geschehene nicht zu vergessen.  a  In Levis Text werden hingegen am Ende die Traumata der Überlebenden  b  betont, die ihnen eine völlige Rückkehr ins ‚normale Leben‘ unmöglich machen.

 

Filmisch versucht Rosi, der Perspektive des Erlebenden möglichst nah zu kommen, die Kamera steht oft auf Augenhöhe mit dem Erzähler Levi und illustriert etwa seine als untergeordnet empfundene Position gegenüber den von der Chaussee herab anreitenden Befreiern in Monowitz, oder im Verhältnis zu dem kraftstrotzenden, zynischen Griechen Nahum, mit dem er die erste Strecke des Wegs zurücklegt. Die Filmmusik speist sich aus wenigen, eingängigen Melodien, die mit Streichinstrumenten bzw. Panflöte klanglich an ein Melodrama erinnern. Dazu passen auch die Bilder, in denen neblig-winterliche Grün- und Blautöne vorherrschen; ästhetisch wie inhaltlich wird der reflektierte literarische Erlebensbericht Primo Levis in Richtung einer stimmungsvoll ergreifenden Odyssee mit letztlich hoffnungsvollem Ausgang verschoben.

(SP)



Filmographie

Titel: La Tregua (dt. Atempause. Auf jeden wartet eine Zukunft)

Land: I/D/CH

Jahr: 1997

Regie: Francesco Rosi

Darsteller/innen: John Turturro, Rade Serbedzija, Massimo Ghini u.a.

Produktion: Martin Scorsese 

Länge: 109 min

 

Preise

_1997 São Paulo Film Festival: Publikumspreis

_1997 Palic Film Festival: Publikumspreis

_1997 Premi David di Donatello: Beste Regie, Bester Film, Bester Produzent

_1997 Cannes Filmfestival, nominiert für Goldene Palme Beste Regie

 

Literatur

Levi, Primo: La tregua. Torino: Einaudi 1963.

Levi, Primo: Die Atempause. München: dtv 1994.