Glossar

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Die Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft (1999)

 a  Zum Beleg sei an dieser Stelle stellvertretend aus einem Brief des Daimler-Benz-Konzerns an den ehemaligen Zwangsarbeiter Eugeniusz Szobski von 1991 zitiert:

„Bei der Festlegung, keine individuellen Leistungen zu erbringen, stand der Gedanke im Vordergrund, dass es ohne eine erneute Bürokratie kaum möglich sein könnte, die Tatsache der Zwangsarbeit zweifelsfrei festzustellen. Eine solche Bürokratie hätte zu langwierigen Verfahren, vor allem aber zu erneutem Unrecht geführt, durch das alte Wunden eher aufgerissen als geheilt worden wären. Eine Entscheidung zu individuellen Leistungen hätte außerdem diejenigen begünstigt, die im Laufe der Jahre ihre psychische und physische Kraft zurückgewonnen haben und möglicherweise in guten Verhältnissen leben.“

(Zit. n. Lothar Evers: Verhandlungen konnte man das eigentlich nicht nennen … In: Ulrike Winkler (Hg.): Stiften gehen. NS-Zwangsarbeit und Entschädigungsdebatte. Köln: PapyRossa 2000, S. 222–234, hier S. 224f.)

 

 b  B’nai B’rith schaltete in der New York Times vom 15. Oktober 1999 eine großformatige Anzeige unter dem Titel „Das beschämende Angebot der deutschen Industrie für die Zwangsarbeiter“. Darin hieß es:

„Deutschland und die deutschen Industrieunternehmen, die Erben dieser großen Verbrechen, wollen uns weismachen, sie hätten für diese schändliche Offerte tief in ihre Taschen gegriffen [und] dass eine Entlohnung von Pfennigen pro Stunde gerecht und würdig sei.“

(Zit. n. Carola Kaps: Die Opfer sind über das deutsche Angebot empört. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.10.1999, S. 3.)

Unterzeichnet war diese Anzeige außer vom American Jewish Congress und dem Polish American Congress auch vom deutschen Bundesverband Beratung und Information für NS-Verfolgte.

Mitte der 1990er Jahre gerieten deutsche Unternehmen in den Blickpunkt der Weltöffentlichkeit: Von Überlebenden des Holocaust bei US-Gerichten eingereichte Sammelklagen (Class Actions) richteten sich unter anderem gegen den Allianz-Konzern wegen nicht ordnungsgemäß erfüllter Versicherungsverträge sowie die Deutsche und die Dresdner Bank wegen ihrer Mitwirkung am NS-Raubgoldhandel. Sammelklagen betrafen außerdem zahlreiche deutsche Industrieunternehmen, die während des Zweiten Weltkriegs von der Ausbeutung von Zwangsarbeiter/innen profitiert hatten. Eine breite Medienberichterstattung in den USA sorgte dafür, dass schließlich die Fusionen von Deutscher Bank und Bankers Trust sowie von Daimler-Benz und Chrysler am Widerstand der US-amerikanischen Aktionäre zu scheitern drohten. Ehemalige Zwangsarbeiter/innen hatten schon früher versucht, von ihren deutschen ‚Arbeitgebern‘ eine Altersrente oder einen Ausgleich für den vorenthaltenen Lohn und die erlittenen gesundheitlichen Schäden zu erhalten. Sie waren in aller Regel abgewiesen worden.  a 

 

Vor dem Hintergrund von Sammelklagen und Boykottaufrufen gegen deutsche Unternehmen in den USA hatte Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) schon vor Aufnahme der Amtsgeschäfte der rot-grünen Bundesregierung im Oktober 1998 den Kontakt zur Industrie gesucht. Am 12. Februar 1999 trafen sich erstmals Abgesandte der Bundesregierung mit Repräsentanten von zwölf deutschen Großkonzernen: Vertreten waren Allianz, Bayer, BASF, Hoechst, Degussa-Hüls, BMW, DaimlerChrysler, VW, Dresdner und Deutsche Bank sowie Thyssen Krupp und Siemens. In einem gemeinsamen Kommuniqué hieß es danach, das Treffen habe dem Ziel gedient, „Klagen, insbesondere Sammelklagen in den USA, zu begegnen und Kampagnen gegen den Ruf unseres Landes und seiner Wirtschaft den Boden zu entziehen“[1]. Geplant war als „Stiftungsinitiative deutscher Unternehmen“ ein mit 2 bis 3 Milliarden DM ausgestatteter Entschädigungsfonds für ehemalige Zwangsarbeiter/innen, insbesondere aus Osteuropa; im Gegenzug sollte die Regierung der USA – vertreten durch Staatssekretär Stuart Eizenstat – sicherstellen, dass in Zukunft keine Klagen gegen deutsche Unternehmen mehr von US-Gerichten angenommen würden (‚Rechtssicherheit‘). Der Bundesverband der mittelständischen Wirtschaft lehnte jede Beteiligung seiner Mitgliedsfirmen an der geplanten Entschädigung mit der Begründung ab, Zwangsarbeit in der NS-Zeit sei eine reine „Angelegenheit der Großindustrie“[2] gewesen. Auch die in der Landwirtschaft beschäftigten Zwangsarbeiter/innen sollten leer ausgehen.

 

In der deutschen Presse wurde scharf gegen die Ansprüche der ehemaligen Zwangsarbeiter/innen polemisiert, wobei antisemitische Formulierungen nicht selten waren. Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein sprach offen von der „Macht“ des „Weltjudentums“, das sich zur Durchsetzung seiner materiellen Interessen einiger „Haifische im Anwaltsgewand“ bediene.[3] Insbesondere der Vorwurf, die Rechtsanwälte der NS-Opfer hätten sich auf Kosten ihrer Klienten bereichert, hält sich hartnäckig bis heute.

 

Anfang Oktober 1999 gewannen die bis dahin sehr zäh verlaufenden Verhandlungen aufgrund öffentlichkeitswirksamer Proteste der beteiligten Opferverbände an Tempo. In der Folge sahen sich Bundesregierung und Industrie zu einem verbesserten Angebot genötigt. Jetzt sollten 6 Milliarden DM gezahlt werden; eine Summe, die von den Opferverbänden in den USA und den sie vertretenden Anwälten sehr öffentlichkeitswirksam abgelehnt wurde.  b 

 

Nach weiteren Auseinandersetzungen boten Bundesregierung und Wirtschaft im November 1999 an, 8 Milliarden DM zu zahlen. Als auch dieses Angebot von den Opferanwälten als „völlig inakzeptabel“[4] zurückgewiesen wurde, erklärte Wolfgang Gibowski, der Sprecher der „Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft“, der „anderen Seite“ müsse „klar sein, dass die Verhandlungen jetzt auf des Messers Schneide stehen“ und schloss weitere Gespräche mit den Anwälten aus: „Da gibt es nichts mehr zu verhandeln, die acht Milliarden werden nicht aufgestockt“; zwischen Bundesregierung und Industrie gebe es in dieser Frage „keinen Millimeter Differenz“.[5]

 

In dieser Situation geriet die Bundesregierung unter Gerhard Schröder dann auch innenpolitisch unter Druck; die Kritik entzündete sich vor allem an der mangelnden Zahlungsbereitschaft der deutschen Wirtschaft. Am 8. Dezember 1999 veröffentlichte die tageszeitung eine Liste des American Jewish Committee, in der insgesamt 267 deutsche Unternehmen aufgeführt waren, die es abgelehnt hatten, in den projektierten Entschädigungsfonds einzuzahlen. Verbunden mit der Veröffentlichung war die indirekte Aufforderung an „all jene unter uns, die sich schämen angesichts der Verweigerer“, zu prüfen, „ob sie noch Produkte von Firmen erwerben wollen, die bei ihrem ‚Nein!‘ zur Stiftungsinitiative bleiben“.[6] Wenige Tage später einigten sich die US-amerikanische und die deutsche Regierung in direkten Konsultationen auf die Zahlung von 10 Milliarden DM an ehemalige Zwangsarbeiter/innen; eine Summe, die das American Jewish Committee bereits im November vorgeschlagen hatte. Das Geld sollte je zur Hälfte vom Bund und von der Wirtschaft auf- und in eine Bundesstiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ eingebracht werden. Die getroffene Einigung bringe, so Gibowski, „klare Rechtssicherheit“[7] für deutsche Unternehmen vor Klagen in den USA. Der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Hans-Olaf Henkel, appellierte an die Wirtschaft, „sich jetzt an der Stiftungsinitiative zu beteiligen“[8].

(GK/PEH)



Download

[pdf] Peer Heinelt_Die Entschädigung der NS-Zwangsarbeiterinnen und -Zwangsarbeiter

 

Literatur

Augstein, Rudolf: „Wir sind alle verletzbar“. In: Der Spiegel, 30.11.1998,  http://wissen.spiegel.de/wissen/dokument/dokument-druck.html?id=7085973&top=SPIEGEL (Zugriff am 29.8.2008).

Erste Zahlungen an Zwangsarbeiter im Sommer 2000. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.12.1999, S. 2.

Evers, Lothar: Verhandlungen konnte man das eigentlich nicht nennen … In: Ulrike Winkler (Hg.): Stiften gehen. NS-Zwangsarbeit und Entschädigungsdebatte. Köln: PapyRossa 2000, S. 222–234.

Förster, A.  / De Thier, P.: Deutsches Angebot stößt auf Ablehnung. In: Berliner Zeitung, 8.12.1999, S. 8.

gruppe 3 frankfurt a.m.: Ressentiment und Rancune. Antisemitische Stereotype in der Entschädigungsdebatte. In: Ulrike Winkler (Hg.): Stiften gehen. NS-Zwangsarbeit und Entschädigungsdebatte. Köln: PapyRossa 2000, S. 251–271.

Jelpke, Ulla / Lötzer, Rüdiger: Geblieben ist der Skandal – ein Gesetz zum Schutz der deutschen Wirtschaft. In: Ulrike Winkler (Hg.): Stiften gehen. NS-Zwangsarbeit und Entschädigungsdebatte. Köln: PapyRossa 2000, S. 235–250.

Kaps, Carola: Die Opfer sind über das deutsche Angebot empört. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.10.1999, S. 3.

Letzte Mahnung. In: die tageszeitung, 8.12.1999, S. 1ff.

„Nur 22 antworteten, aber niemand sagte, Ja wir machen mit“. Interview mit Deidre Berger, Vizedirektorin des Berliner Büros des American Jewish Committee. In: Süddeutsche Zeitung, 19.11.1999, S. 7.

Schröder, Dieter / Surmann, Rolf (Hg.): Der lange Schatten der NS-Diktatur. Münster: Unrast 1999.

[1] Zit. n. Ulla Jelpke / Rüdiger Lötzer: Geblieben ist der Skandal – ein Gesetz zum Schutz der deutschen Wirtschaft. In: Ulrike Winkler (Hg.): Stiften gehen. NS-Zwangsarbeit und Entschädigungsdebatte. Köln: PapyRossa 2000, S. 235–250, hier S. 239.

[2] Zit. n. Jelpke / Lötzer: Geblieben ist der Skandal, S. 240.

[3] Rudolf Augstein: Wir sind alle verletzbar. In: Der Spiegel, 30.11.1998, zit. n. gruppe 3 frankfurt a.m.: Ressentiment und Rancune. Antisemitische Stereotype in der Entschädigungsdebatte, in: Ulrike Winkler (Hg.): Stiften gehen. NS-Zwangsarbeit und Entschädigungsdebatte. Köln: PapyRossa 2000,S. 251–271, hierS. 262.

[4] So der Washingtoner Rechtsanwalt Michael Hausfeld, zit. n. A. Förster / P. De Thier: Deutsches Angebot stößt auf Ablehnung. In: Berliner Zeitung, 8.12.1999, S. 8.

[5] Wolfgang Gibowski, zit. n. Förster / De Thier: Deutsches Angebot, S. 8.

[6] Letzte Mahnung. In: die tageszeitung, 8.12.1999, S. 1.

[7] Wolfgang Gibowski, zit. n. Erste Zahlungen an Zwangsarbeiter im Sommer 2000. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.12.1999, S. 2.

[8] Hans-Olaf Henkel, zit. n. Erste Zahlungen an Zwangsarbeiter im Sommer 2000, S. 2.