Entwicklung und Produktion von synthetischem Benzin
Das Projekt zur Herstellung von synthetischem Benzin der Marke Leuna in Leuna hatte den I.G. Farben-Konzern ökonomisch schwer belastet und war bereits seit 1930 nur durch staatliche Subventionen vor dem Abbruch zu bewahren gewesen. Innerhalb des Konzerns war diese Sparte stark umstritten, weil sie von der staatlichen Entscheidung für eine Autarkie-Politik abhing.
Kurz nach der Machtübergabe an die NSDAP im Frühjahr 1933 gründete der Vorstandsvorsitzende Carl Bosch einen Arbeitsstab, dem er die Aufgabe zuwies, die staatliche Subventionierung der Produktion von synthetischem Benzin als Teil eines Programms zur „nationalwirtschaftlichen“ Steigerung der Inlandsproduktion von Treibstoffen und Mineralölen zu rechtfertigen. Bis Juni 1933 war eine entsprechende Denkschrift fertiggestellt. Sie ging von einer fünfzigprozentigen Verbrauchssteigerung bis zum Jahr 1937 aus und forderte für die kommenden vier Jahre eine Steigerung des inländischen Erzeugungsanteils von 25 auf 63 Prozent bzw. von aktuell 500.000 auf 2,8 Millionen Tonnen Treibstoff. Da die Gestehungspreise erheblich über den Weltmarktpreisen liegen würden, konnten diese Investitionen nach Auffassung der Arbeitsgruppe nur getätigt werden, wenn der Inlandsmarkt von „ausländischen Einflüssen“ abgeschottet und auf dem Gesetzesweg „gewisse Mindestpreisgarantien gegeben“ würden.[1]
Nun begann die Suche nach Bündnispartnern. Die Montanindustrie des Ruhrgebiets sagte der I.G. Farben zu, die geforderte Hydrierkapazität von 800.000 Tonnen zur Hälfte mit ihr zu teilen. Die Kontakte des führenden Montan-Managers Albert Vögler ermöglichten eine enge Zusammenarbeit mit dem Luftfahrtministerium und den Spitzenoffizieren des Heereswaffenamts. Das von der I.G. Farben geforderte Gesetz zur Förderung der Mineralölwirtschaft wurde vom Reichskabinett Anfang Dezember 1933 gebilligt, jedoch aus Furcht vor außenpolitischen Verwicklungen nicht veröffentlicht. Auf dieser Grundlage konnte die I.G. Farben dann am 14. Dezember mit dem Reichsfinanz- und dem Reichswirtschaftsministerium einen ersten „Benzinvertrag“ abschließen, der für Leuna bis Ende 1935 den Ausbau der Synthesekapazität auf maximal 350.000 Jahrestonnen Treibstoff vorsah und durch eine großzügige Preis- und Abnahmegarantie absicherte.
Das Reich war damit zum stillen Teilhaber der I.G. Farben geworden: Es nahm ihr die Risiken gegen minimale Kontrollbefugnisse komplett ab und schuf damit die Voraussetzungen zur Sanierung und Konsolidierung ihrer gesamten Hochdrucksparte. Die I.G. sorgte nach Abschluss des Vertrages durch ihre Präsenz in den entstehenden Betreibergesellschaften, wie beispielsweise der im Herbst 1934 gegründeten Braunkohle-Benzin AG (Brabag), dafür, dass ihr Hydrierverfahren bevorzugt wurde, und strich neben den Lizenzgebühren erhebliche Zahlungen für die von Ludwigshafen aus gesteuerten Anlagenbauten ein.
Im Oktober 1936 erreichte in Gelsenkirchen das erste von Steinkohle ausgehende Hydrierwerk der Scholven AG, einer Beteiligungsgesellschaft der I.G. Farben mit der Bergwerksgesellschaft Hibernia AG, die geplante Vollproduktion von 125.000 Jahrestonnen. Dieser Erfolg sicherte die innerdeutsche Vormachtstellung der I.G. Farben auf diesem Terrain endgültig. Die Montanindustrie griff zu und nahm unter der Regie Carl Krauchs die Lizenzen und Baukapazitäten der Oberrhein-Gruppe der I.G. Farben für die Errichtung von Hydrierwerken der Vereinigten Stahlwerke (Gelsenberg AG), der Rheinischen Braunkohle AG in Wesseling, die Sudetenländische Bergbau A.G. (im Besitz der Reichswerke A.G. für Erzbau und Eisenhütten „Hermann Göring“) in Brüx, der Schlesien-Benzin AG in Blechhammer und der Ruhröl/Stinnes AG in Weilheim in Anspruch. Die drei Hydrierwerke der Brabag in Böhlen, Magdeburg und Zeitz waren teilweise schon seit 1935 in Betrieb. Hinzu kam eine Lizenz-Anlage der Wintershall AG in Lützkendorf sowie eine von der Rhenania-Ossag und der Deutsch-Amerikanischen Petroleum Gesellschaft mit der I.G. Farben gemeinsam betriebene Anlage in Pölitz bei Stettin, die die Schwerölrückstände von Erdölraffinerien umsetzte und kurz vor Kriegsbeginn in Betrieb ging. Im August 1939 waren in Deutschland insgesamt zwölf Benzin- und Mineralölhydrierwerke in Betrieb, ihre Kapazität belief sich auf 3,85 Millionen Jahrestonnen. Sie deckten die Hauptmasse des Treib- und Schmierölbedarfs aller Truppenteile der Wehrmacht für den Kriegsfall.
Von 1939 bis 1943 verdoppelte die I.G. Farben ihre Umsätze mit synthetischem Treibstoff von ca. 162 Millionen auf ca. 351 Millionen Reichsmark. Auf den dringenden Bedarf der Luftwaffe nach hochwertigem Flugbenzin ging die Konzernführung erst ab Ende 1940 ein, als der Kriegsverlauf dazu keine Alternative mehr ließ, weil die erwartete Eroberung von rohstoffreichen Gebieten nicht gelungen war. Nun sollte im neuen Werk der I.G. in Auschwitz eine Buna-Anlage mit einer Isooktan-Fabrik kombiniert werden, um der Luftwaffe jährlich 25.000 Tonnen Hochleistungsbenzin zu liefern.
Die Abhängigkeit der deutschen Kriegführung von der Leuna-Produktion zeigte sich, als die Hydrierwerke seit Februar 1944 von alliierten Bombenangriffen immer stärker außer Betrieb gesetzt wurden. Die Zerstörungen waren dort am größten, wo Hydrier- und Isooktan-Anlagen in die Werkskomplexe integriert waren: In Leuna und Ludwigshafen-Oppau (70 bzw. 45 Prozent Zerstörungen) kam es zu einer mehrmaligen Abfolge von Stilllegung, Wiederaufbau und neuerlicher Zerstörung. In Auschwitz und Heydebreck wurde die Inbetriebnahme der Gesamtanlagen durch alliierte Luftangriffe verhindert.
(GK; erstellt auf der Grundlage von Karl Heinz Roth: Die I.G. Farbenindustrie AG im Zweiten Weltkrieg)