Glossar

Fahren Sie mit der Maus über ein rotes Wort im Haupttext, um den Glossareintrag für dieses Wort zu sehen.

Joseph Spring (*1927)

Josef Sprung und sein Cousin Sylver Henenberg,
'La Llagonne, 1943
'© Joseph Spring
Josef Sprung und sein Cousin Sylver Henenberg,
La Llagonne, 1943
© Joseph Spring

 a  „Die Macht der Nazis spürte man beispielsweise daran, dass immer mehr Lehrer ihren Job verloren und an die jüdischen Schulen kamen, um dort zu unterrichten. Professoren von der Universität versuchten, kleinen Kindern etwas beizubringen. In den Pärken war es Josef untersagt, auf Bänke [sic] zu sitzen. Entweder befolgte er das oder er musste aufpassen, dass ihn niemand erwischte. Im Bad, wo Josef Schwimmstunden nahm, hieß es auf einem Schild: ‚Juden nicht erwünscht!‘, doch Josef ging trotzdem hin. Dann hieß es ‚Juden verboten!‘, und Josef ging immer noch hin. ǀ Das Unangenehmste war das ständige Rennen. Immer musste man sich in Acht nehmen draußen. Immer lauerten irgendwo die Jungs von der Hitlerjugend oder andere Jungs am Schulweg, um einen zu verprügeln[…] Josef verzichtete auf das Schlittschuhlaufen auf dem Engelbecken, weil es dort zu gefährlich war. Josef lernte immer schneller zu rennen, um den Schlägern zu entkommen. Einmal schnappten ihn die Jungs trotzdem und ließen ihn gegen einen gleichaltrigen Nichtjuden boxen. Als minderwertiger Jude würde er natürlich verlieren. Josef, der nicht boxen konnte, haute den Arier, der auch nicht boxen konnte, auf die Nase. Jener fing an zu heulen, und Josef gelang es, fast unversehrt zu verschwinden.“

(Stefan Keller: Die Rückkehr. Joseph Springs Geschichte. Zürich: Rotpunkt 2000, S. 13.)

 

 b  „Hatte er nicht bisher ständig auf andere Leute gehört? Auf die Mutter zuerst, dann auf den älteren Cousin Dolph. Von jetzt an, so schwor sich Joseph im Camion, werde er nur noch auf sich selber hören.“

(Stefan Keller: Die Rückkehr. Joseph Springs Geschichte. Zürich: Rotpunkt 2000, S. 88.)

„Das ist eine Sache die niemand versteht, der nicht selber im KZ gewesen ist, sagt Joseph Spring: dass du dich dort so weit anpassen kannst, bis du schließlich denkst, du würdest den Rest deines Lebens im Lager bleiben. Du bist sogar hundertprozentig davon überzeugt. Denn du siehst im KZ nichts anderes als die normale Konsequenz von allem, was ihm vorausgegangen ist: die logische Fortführung der jahrelangen Verfolgung, der behaupteten Minderwertigkeit, der Demütigungen seit frühester Kindheit, seit der ersten Flucht vor den Hitlerjungen, des Ausschlusses aus der Menschheit. Das einzig Gute am Aufenthalt im KZ ist, dass es schlimmer jetzt nicht mehr werden kann. Nur eine Steigerung gibt es noch, den Schornstein – aber dann, als die Bomben fielen, war da plötzlich ein ganz, ganz kleines Gefühl von Hoffnung.“[1]

 

Josef Sprung kam 1927 als erster Sohn polnischer Juden in Berlin zur Welt. Sein Vater starb an einer Blutvergiftung, als Josef fünf Jahre alt war. Die Mutter Czarna ernährte sich und die Söhne Josef und Heini mit einer Eisdiele, bis diese 1935 zerstört wurde.  a  Dann schickte sie ihre Söhne illegal nach Belgien zu Verwandten, der Familie Henenberg. Bis zum Einmarsch der Wehrmacht im Mai 1940 führten sie dort ein relativ sicheres Leben, nun mussten sie nach Frankreich fliehen. Heini tauchte bei Katholiken unter, Josef und sein älterer Cousin Dolph Henenberg erhielten schließlich durch Bürgschaft ihrer Vermieterin in Montpellier echte französische Papiere: Josef wurde „Joseph Dubois“. Sie fanden Arbeit als Übersetzer bei den Deutschen, es ging ihnen verhältnismäßig gut. Dolph schickte Josef zurück nach Belgien, um seine Brüder Sylver und Henri Henenberg zu holen. Josef brachte sie mit gefälschten Papieren über die Grenze nach Frankreich, die vier versuchten im Oktober 1943, über die Pyrenäen nach Spanien zu fliehen. Die spanische Grenze war geschlossen, also reisten sie quer durch Frankreich und versuchten, bei La Cure in die Schweiz zu gelangen. Sie wurden beim Überqueren der Grenze gefangen genommen und am 15. November 1943 unter ihrer echten Identität an die Deutschen übergeben.

 

Über das Sammellager Drancy wurden sie ins KZ Auschwitz deportiert. Josefs Cousins, Sylver und Henri, stiegen bei der Ankunft auf einen der Lastwagen, Josef sah sie nie wieder. Er kam allein  b  ins KZ Buna/Monowitz, wo ihm der Schreiber der Politischen Abteilung, Walter Peiser, Hilfe anbot: Er beschaffte Josef Sprung Essen und wies Norbert Wollheim an, Josef zum Schweißer auszubilden. Am 18. Januar 1945, seinem 18. Geburtstag, wurde Josef auf den Todesmarsch getrieben. Über Mittelbau-Dora gelangte er weiter nach Westen, bekam entzündete Füße und vereiterte Lymphknoten. Als er gar nicht mehr gehen konnte, versteckte er sich in einer Scheune und wurde am nächsten Morgen von der U.S. Army befreit.

 

Seit 1946 lebt Josef als Joseph Spring in Australien, er heiratete Ava und hat zwei Söhne. 1998 verklagte er die Schweiz wegen Beihilfe zum Völkermord, die Klage wurde zurückgewiesen. In der Folge veröffentlichte der Schweizer Historiker und Journalist Stefan Keller 2003 Joseph Springs Biografie Die Rückkehr. Ausgehend vom Prozessverlauf erfolgen erzählerische Rückblenden auf Josefs Flucht, Verhaftung, Auslieferung und Lagerhaft, quasi eine „Beweisaufnahme“, die mit dem Urteil und der Gegenwart (2003) abschließt. Die in zahlreichen Gesprächen erfahrenen Erlebnisse verknüpfte Keller mit historischen Hintergrundfakten und lässt den Zeugen Joseph Spring dazwischen in Dialogform zu Wort kommen. Dessen anschauliche und direkte Sprechweise, seine detailgenauen Beobachtungen und Erinnerung verleihen den Fakten Anschaulichkeit und ermöglichen es, eine Ahnung des von ihm Erlebten zu geben.

(SP)

 

 

Fototafel von Joseph Spring



Quelle

Joseph Spring, Lebensgeschichtliches Interview [Eng.], 4.11.1996. USC Shoah Foundation Institute, Survivors of the Shoah Visual History Archive, Code 22675.

 

Literatur

Keller, Stefan: Die Rückkehr. Joseph Springs Geschichte. Zürich: Rotpunkt 2000.

Informationen zum Prozess „Spring gegen Schweiz“ (Zeitungsartikel).

[1] Stefan Keller: Die Rückkehr. Joseph Springs Geschichte. Zürich: Rotpunkt 2000, S. 147.