Paul Steinberg (1926–1999)
„Die Ärzte [im Häftlingskrankenbau] haben sterben lassen, um retten zu können. Ich habe gesehen, wie um mich herum Menschen starben, doch ich bin gerettet worden. Das hat genügt, daß ich mich unwohl fühle, schuldig, weil ich allzu großes Glück gehabt, mich der Solidarität mit dem gemeinsamen Schicksal entzogen habe. Gewiß, diese Gefühle sind erst später aufgetreten, nach der Wieder-Geburt. Sie entstammen einer Ethik, die hier nicht zur Debatte steht.
Zuweilen stelle ich mir vor, daß Waitz, Ohrenstein, Feldbaum und die anderen meinen Fall diskutiert und sich gefragt haben, ob ich überhaupt in der Lage sei, wieder auf die Beine zu kommen. Vielleicht haben sie aber auch nichts dergleichen getan und mich über Wasser gehalten, solange es irgend ging?
Immerhin habe ich mich ihrer Bemühungen würdig gezeigt. Das Glück hat nachgeholfen. Ihre Wette ist aufgegangen, und sie haben gewonnen.“[1]
Paul Steinberg wurde 1926 als jüngstes von drei Kindern einer russisch-jüdischen Familie in Berlin geboren. Seine Mutter Hélène Steinberg starb wenige Tage nach seiner Geburt. 1933 emigrierte die Familie über Italien nach Frankreich, ging dann nach Barcelona und kehrte schließlich wegen des Bürgerkriegs nach Paris zurück. Paul Steinberg wuchs in vier Ländern auf – ohne feste Freundschaften, mit wechselnden Schulen und in vier Sprachen: Deutsch, Französisch, Russisch und Englisch. 1936 emigrierte sein Bruder Georges nach England, die Schwester Lydia lebte ab 1941 mit falschen Papieren im unbesetzten Teil Frankreichs. Nur Paul blieb bei seinem Vater Joseph Steinberg und der Stiefmutter Pauline Steinberg in Paris; doch vermied er es, den Judenstern zu tragen, schon, um zu seiner Leidenschaft, den Pferderennen, gehen zu können.
Am 23. September 1943 wurde Paul Steinberg in Paris von zwei Polizisten infolge eines Denunziationsbriefs verhaftet. Er kam in das Sammellager Drancy, wo er sich mit dem gleichaltrigen Philippe Hagenauer anfreundete. Zusammen schlossen sie sich einer Gruppe junger Sportler um den ehemaligen Boxweltmeister Victor „Young“ Perez an. Sie wurden am 7. Oktober 1943 gemeinsam nach Auschwitz deportiert. Paul Steinberg überlebte als einziger der Gruppe das KZ Buna/Monowitz und den anschließenden Todesmarsch. Noch ahnungslos über die Regeln des Lagerlebens gelang es ihm, das Wohlwollen und die Protektion des Lagerältesten zu erwerben, so dass er nach einigen Tagen des Schleppens von Ziegelsteinen in ein leichteres Kommando zum Reinigen von Magazinen versetzt wurde. Im Winter 1943/44 erkrankte Paul Steinberg erst an Gelbsucht, dann an Ruhr und Rotlauf und kam als beinahe-Muselmann in den Krankenbau. Er überlebte dank der Hilfe der Ärzte Robert Waitz, Ohrenstein, Feldbaum und anderer französischer Häftlinge, mit denen ihn ein Netz gegenseitiger Hilfe auch nach seiner Entlassung aus dem Krankenbau verband. Paul Steinberg, der sich bereits bei seiner Ankunft im KZ Buna/Monowitz als Chemiker ausgegeben hatte, kam schließlich ins Kommando 23, dem später auch Primo Levi zugeteilt wurde. Am 18. Januar 1945 wurde er mit tausenden anderen Häftlingen auf den Todesmarsch nach Gleiwitz getrieben und von dort in offenen Waggons über Prag, wo tschechische Arbeiter Brot in die Waggons warfen, ins KZ Buchenwald transportiert. In Buchenwald gelang es ihm, sich als politischer Häftling auszugeben und so der Deportation der verbliebenen etwa 1.200 jüdischen Häftlinge aus Buchenwald und ihrer Ermordung bei München zu entgehen. Kurz nach der Befreiung Buchenwalds kehrte er mit Hilfe amerikanischer Soldaten nach Paris zurück.
Nach drei, vier Jahren unsteten Lebens in Paris begann Paul Steinberg, für vierzig Jahre in einem kaufmännischen Beruf zu arbeiten. Er heiratete Simone, das Paar bekam zwei Töchter. In Primo Levi’s autobiographischem Roman Ist das ein Mensch? taucht Paul Steinberg in der Figur des Henri auf. Obwohl ihm selbst die ganze Zeit bewusst war, dass er Rechenschaft ablegen müsse, nahm er sich die Zeit, einen Bericht seiner Erfahrungen in Buna/Monowitz und zugleich eine Reflektion seiner Erinnerungen zu schreiben, erst aus dem Abstand von 50 Jahren, als er in den Ruhestand gegangen war. Dieser Bericht erschien 1996 unter dem Titel Chroniques d’ailleurs: Récit (dt. Chronik aus einer dunklen Welt, 1998). Paul Steinberg starb 1999 in Paris.
(MN)