Plädoyer Otto Küsters in 2. Instanz
(Otto Küster, Plädoyer, 1.3.1955. HHStAW, Abt. 460, Nr. 1424 (Wollheim gegen IG Farben), Anlage-Bd. II, 26 Seiten, S. 5.)
2. Wer die Macht über eine Gruppe, in der die Kollektivangst haust, dazu benützt, diesem oder jenem Übles zu tun, hat sich gegen jeden Angehörigen der Gruppe vergangen, weil jeder damit rechnen muss, der Nächste zu sein.
3. Das Ausstehenlassen von Angst als solches ist im Sinne des Gesetzes Verletzung der Gesundheit. Es ist überflüssig, daneben noch nach sinnfälligen Auswirkungen im Organismus zu fragen.“
(Otto Küster, Plädoyer, 1.3.1955. HHStAW, Abt. 460, Nr. 1424 (Wollheim gegen IG Farben), Anlage-Bd. II, 26 Seiten, S. 12.)
(Otto Küster, Plädoyer, 1.3.1955. HHStAW, Abt. 460, Nr. 1424 (Wollheim gegen IG Farben), Anlage-Bd. II, 26 Seiten, S.16.)
Otto Küsters Plädoyer unterscheidet sich wesentlich von denen seiner Vorredner: Seine Ausführungen sind rechtsphilosophischer Natur. In einem Gedankenspiel unterstellt er zunächst der I.G. Farben, sie habe bezüglich der Beschäftigung und Behandlung von Häftlingen in Monowitz nicht anders handeln können, habe Norbert Wollheim persönlich nicht misshandelt und im Übrigen von den Vorgängen im Lager keine Kenntnis gehabt, kurz gesagt: „Einen vorsätzlichen Tatbeitrag habe sie also […] nicht geleistet.“[1] Davon ausgehend wies Küster der Beklagten anhand des erstinstanzlichen Urteils aktives schädliches Handeln nach, „denn nach bürgerlichem Recht wird ihr das Handeln ihrer Leute zugerechnet“[2].
In moralisch-ethischer Argumentation schloss Küster daraus: „Hätte ein verfassungsmässiger Vertreter der Bekl. gewusst, was in Auschwitz geschah, so hätte es für die Beklagte keine Wahl mehr gegeben als von Stund an die Baustelle stillzulegen […].“[3] Da den Angestellten der I.G. Farben nicht verborgen geblieben sein konnte, so Küster, wie die Zustände in Auschwitz waren, hätte der Konzern die Pflicht gehabt, „das Schicksal der Häftlinge […] zu verbessern“.[4]
An der Klage Norbert Wollheims führte Küster weiter aus, dass es der „Ur- und Grundschaden Angst“[5] sei, der den Kern von Wollheims Klage bilde
An die I.G. Farben i.L. gerichtet versuchte sich Küster dann in einer Ausformulierung der Unterlassungen zur Verbesserung des Schicksals der Häftlinge, derer sich I.G. Farben schuldig gemacht habe
Küsters Argumentation kulminierte in der Ablehnung des Einwands der I.G.-Anwälte, Wollheim selbst habe die Haft ohne gesundheitliche Schäden überstanden und könne daher keine Schadensersatzpflicht geltend machen: „[D]ieses Rechtsverhältnis wird bestimmt von erheblich mehr Umständen als bloß davon, ob der Kläger Schläge erhalten und Körperbeschädigungen davongetragen hat. E[s] wird bestimmt durch die Hölle von Auschwitz als solche, aus deren Hintergrund die Kamine nicht wegzuzaubern sind. Es wird bestimmt durch die unüberhörbare Pflicht zum menschlichen Handeln, die den trifft, der in der Hölle, ohne zu den Verdammten zugehören, vielmehr auf der anderen Seite, mitschuftet.“[8]
Statt weiterer Vorwürfe an die I.G. gab Küster zum Ende seines Plädoyers der Enttäuschung Ausdruck, die I.G. habe die Werte, für die sie zu Recht jahrzehntelang geschätzt worden sei, verraten: „Denn es ist wahr, die alte IG, war ‚unsere‘ IG, sie war geziert mit dem Doppelruhm der Wissenschaft und der sozialen Leistung. […M]an ist ganz gewiss ohne viel eigene Bosheit da hineingeraten, ohne mehr Bosheit als den Menschenherzen durchschnittlich und von Natur aus eben innewohnt – aber dies Gefühl eigener Harmlosigkeit ändert doch nichts daran, dass das entsetzlichste Unrecht im deutschen Namen begangen wurde, und ändert im Fall dieser Beklagten nichts daran, dass ein Werk der IG den Namen des Ortes trug, der – es sei denn, die bisherige Geschichte habe ein Ende – in die Jahrhunderte hinaus als der Ort der irdischen Hölle bekannt bleiben wird. Sie hat sich nicht ermannen können, daraus die Konsequenz zu ziehen, die Konsequenz, mit der unter Menschen Unrecht gesühnt wird.“[9]
(SP)